Marcel Proust

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Marcel Proust (um 1900), Foto: Otto Wegener
Prousts Signatur
Prousts Signatur

Valentin Louis Georges Eugène Marcel Proust (* 10. Juli 1871 in Paris; † 18. November 1922 ebenda) war ein französischer Schriftsteller und Sozialkritiker. Sein Hauptwerk ist der siebenbändige Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, das bedeutendste Werk der französischen Romanliteratur des frühen 20. Jahrhunderts.[1]

KIndheit, Jugend und Studium

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Marcel Prousts Eltern, der Arzt Adrien Proust und Jeanne Weil (1849–1905),[2] heirateten am 3. September 1870 in einem Zivilakt. Prousts Vater stammte aus Illiers (Département Eure-et-Loir) und war katholisch, die Mutter stammte aus der jüdischen Bankiersfamilie Weil, die Anfang des 19. Jahrhundert aus dem Elsass und Lothringen (der Nähe von Metz) nach Paris gekommen war. In ihrer Stammregion hatten die Weils ein Vermögen in der Porzellanindustrie gemacht, wo sie ursprünglich als einfache Arbeiter begonnen hatten.[3] Ein Onkel der Mutter war der Schriftsteller und Essayist Godchaux Weil (1806–1878), der vor allem in dem Monatsblatt Archives israélites de France publiziert hatte, ein weiterer Verwandter war Adolphe Crémieux, Rechtsanwalt und Repräsentant jüdischer Organisationen, der auch als Parlamentarier und Justizminister amtierte. Dank des Erbes seines Großvaters mütterlicherseits, des Börsenmaklers Nathee Weil, konnte Proust zeitlebens eine finanziell unabhängige Existenz führen.[4]

Prousts Geburtshaus in der rue Jean-de-la-Fontaine in Paris

Am 10. Juli 1871 kam Marcel Proust in der Rue La Fontaine 96 im noblen Stadtviertel Auteuil in der Nähe des Bois de Boulogne zur Welt, im Haus seines Großonkels Louis Weil. Die politische Situation war durch das Ende des Deutsch-Französischen Krieges und den Pariser Kommune-Aufstand bestimmt. Im August wurde Marcel katholisch getauft.

Jeanne Proust brachte am 24. Mai 1873 ihren zweiten Sohn, Robert, zur Welt, der später ein bekannter Arzt wurde und der literarische Nachlassverwalter von Proust war. Die Familie Proust zog im August von 8, Rue Roy nach 9, Boulevard Malesherbes um; beide Wohnungen lagen im 8. Arrondissement von Paris.

Seine Ferien verbrachte Proust mit seiner Familie in Auteuil oder Illiers bei Chartres (die zu Combray in seinen Romanen wurden) oder in Seebädern in der Normandie mit seiner Großmutter mütterlicherseits.[5] Nach dem aus Illiers stammenden Vater wurde dort die Rue du Docteur Proust benannt. Als Hommage an Marcel Proust wurde der Ort 1971 in Illiers-Combray umbenannt. Proust sah seinen Vater als ehrfurchtgebietende, einflussreiche Respektsperson; er lässt den jugendlichen Ich-Erzähler seines Romans darüber sinnieren, dass dessen übermächtiger Vater ihn notfalls aus jeder Zwangslage (wie Entführung oder Krankheit) werde befreien können und sogar in der Lage sei, „durch Verhandlungen mit der Regierung und dem Schicksal Übereinkunft zu erzielen, dass ich der erste Schriftsteller der Epoche werde“.[6]

Im Alter von neun Jahren erlitt Marcel seinen ersten Asthmaanfall.[7] Im Oktober 1882 trat er ins Lycée Condorcet ein; auf dieser Schule lernte er u. a. Jacques Bizet, Daniel Halévy und Alfred Dreyfus kennen. In seiner Zeit am Gymnasium verliebte er sich in ein Mädchen namens Marie de Benardaky und fand durch Freunde Zugang zu Salons der oberen Gesellschaft wie die von Geneviève Halévy und Madame Arman de Caillavet. In das Jahr 1887 fallen erste schriftstellerische Versuche für Schulzeitschriften mit blumigen Namen wie La Revue Verte oder La Revue Lilas (nach der Farbe ihres Papiers benannt). 1888 unterrichtete ihn der Philosophielehrer Alphonse Darlu, der einen großen Einfluss auf ihn ausübte.

Nach dem Besuch des Lycée meldete sich Marcel Proust im November 1889 freiwillig für ein Jahr zum Militärdienst, um der Einziehung für vier Jahre zuvorzukommen; er diente im 76e régiment d’infanterie, das in Orléans stationiert war. Dort lernte er Robert de Billy kennen. Ein Jahr später beendete Proust seinen Militärdienst und schrieb sich an der juristischen Fakultät ein. Im selben Jahr besuchte er Vorlesungen von Henri Bergson, mit dem er weitläufig verwandt war und dessen wahrnehmungsorientiertes Konzept von Zeit auf Proust einen gewissen Einfluss gehabt haben dürfte. Im September 1891 fuhr Proust erstmals nach Cabourg. Zuvor war er mit seinen Eltern schon mehrfach an die Kanalküste gereist, so nach Dieppe, Trouville-sur-Mer und Le Tréport.

Der Komponist Reynaldo Hahn (1907), Freund und Geliebter von Proust.

1893 machte Proust die Bekanntschaft von Robert de Montesquiou, einer der schillerndsten und selbstverliebtesten Gestalten des Pariser Lebens, der als Baron Charlus später zu einem der drei Haupthelden in der Suche nach der verlorenen Zeit (SvZ) werden sollte. Im selben Jahr nahm der Dreyfus-Skandal seinen Anfang, der die französische Öffentlichkeit 13 Jahre lang beschäftigte. Dieser Skandal, der die Diffamierung eines jüdischen Offiziers zum Gegenstand hatte, aber eigentlich die gesellschaftlichen Vorurteile gegen das französische Judentum insgesamt betraf und die Bevölkerung spaltete, wurde bei Proust zu einer Art „Wasserscheide“ für den gesellschaftlichen Erfolg oder Misserfolg der Protagonisten, je nach politischer Ausrichtung. 1894 lernte Proust den 20-jährigen Musikstudenten und angehenden Komponisten Reynaldo Hahn kennen, Halbjude wie Proust selbst, der dessen Gedichte „Porträts von Malern“ vertonte und mit dem ihn zwei Jahre eine leidenschaftliche Liebesbeziehung verband, bis sich Proust 1896 Lucien Daudet zuwandte. Hahn und Proust blieben bis zu Prousts Tod einander in Freundschaft verbunden, wie ein lebhafter Briefwechsel belegt,[8] von dem fast ausschließlich Prousts Teil erhalten geblieben ist.

Seine regelmäßigen Besuche der exklusiven Salons von Madame Straus (geb. Geneviève Halévy, der Witwe des Komponisten Georges Bizet und Mutter von Prousts Schulfreund Jacques Bizet), von Léontine Lippmann und ihrem Sohn Gaston Arman de Caillavet, von Lydie Aubernon und Madeleine Lemaire während seiner Studienzeit in den 1890er Jahren machten Proust zu einem scharfsinnigen Beobachter der (teils jüdischen) Großbourgeoisie, deren Bild er in Artikeln für die Tageszeitung Le Figaro zeichnete, was ihm den Ruf eines „Hofberichterstatters“ eintrug – Prousts Bewunderung der Haute volée hat zwar teils ironische, teils aber auch schon komische Züge.[9] Aus diesen bildungsbürgerlichen Salonnièren und ihren Gästen sollte Proust später in seinem Roman die Figur der Madame Verdurin und ihres intimen Salons destillieren. Eine Ausnahmestellung hatte in Prousts Bekanntenkreis der alternde Kunstkenner Charles Haas (1832–1902), ein gebildeter, stets hocheleganter sozialer Aufsteiger mit perfekten Manieren, Sohn eines jüdischen Wechselmaklers (wie Prousts Großvater), dem es gelungen war, bis in die illustresten Kreise der Pariser Gesellschaft aufzusteigen und zum Freund höchster Aristokraten zu werden. Ihm gelang sogar die Aufnahme in den Jockey-Club de Paris. In diesem 1835 gegründeten Club, der gesellschaftlich wohl geschlossensten Institution der Welt, gab es zu Lebzeiten Prousts neben den Rothschilds nur noch ein jüdisches Mitglied, Charles Haas, der von sich sagte: »Ich bin der einzige Jude, der es fertiggebracht hat, von der Pariser Gesellschaft anerkannt zu werden, ohne grenzenlos reich zu sein.«[10] Obwohl er eher ein guter Bekannter als ein Freund Prousts war, wählte der junge Autor diese bewunderte Ausnahmeerscheinung, um einen der Haupthelden seiner Romanfolge zu kreieren: Charles Swann, der biographisch und äußerlich Haas gleicht.[11]

Armand, 12. Herzog von Gramont, Herzog de Guiche (1879–1962), enger Freund Prousts.

Auch Proust selbst gelang es bereits in den 1890er Jahren, nach Haas' Vorbild, in Kreise des französischen Adels und Hochadels vorzudringen, die einem Bürgerlichen normalerweise versperrt waren. In künstlerischen und literarischen Zirkeln, zu deren herausragenden Repräsentanten Anatole France und die Schauspielerin Sarah Bernhardt gehörten, hatte er adlige Dichterkollegen wie den Grafen Montesquiou und die Gräfin Anna de Noailles kennengelernt. Über sie (und Annas Bruder Constantin de Brancovan) erhielt er Einladungen in die Salons alter Adelsfamilien in deren prachtvollen Hôtels particuliers. Dieser kleinen, sehr abgeschlossenen „Welt des Faubourg Saint-Germain um die Jahrhundertwende sollte Proust durch seinen Roman schließlich zu Weltruhm und literarischer „Unsterblichkeit“ verhelfen. So lernte er Annas Cousins, die rumänisch-französischen Prinzen Antoine und Émmanuel Bibesco, kennen. Deren Mutter, Prinzessin Alexandre Bibesco, führte in Paris einen Salon und war eine virtuose Pianistin, die Liszt, Wagner und Gounod kannte. Die Brüder wurden zu seinen Freunden, ebenso wie später deren Cousine Marthe Bibesco, und vor allem Antoine blieb ein loyaler und hingebungsvoller Freund von Proust bis zu dessen Tod. Ein weiterer enger Freund war Armand de Gramont, Herzog de Guiche und 12. Herzog von Gramont (1879–1962); 1904 heiratete dieser die Comtesse Élaine Greffulhe, Tochter der Élisabeth Greffulhe. Wenige Jahre später tauchen beide in Prousts entstehenden Manuskripten der SvZ als Protagonisten auf: Gramont wurde zu einem der Vorbilder des Marquis de Saint-Loup, die glamouröse Élisabeth Greffulhe zum Vorbild der Herzogin von Guermantes. Weitere adlige Freunde, in deren Gesellschaft er sich wohlfühlte, waren Louis d’Albuféra, ein Nachfahre von Napoleons gleichnamigem Marschall, sowie der Prinz Constantin Radziwiłł, der 1876 eine Tochter des Spielbankdirektors von Monte Carlo, François Blanc und seiner Frau Marie, geheiratet hatte, jedoch seine homosexuellen Neigungen kaum verhüllt auslebte (er stattete seine zwölf gutaussehenden Lakaien mit Perlenhalsketten aus) und diente Proust als Vorbild für den snobistischen Prinz de Guermantes.

In der Pariser Adelsgesellschaft ereigneten sich damals diverse Skandale: Der reale Prinz Radziwiłł endete von seiner Frau getrennt im Bankrott, doch auch sein Sohn Léon Radziwill (1880–1927), der ebenfalls zu Prousts Freundeskreis gehörte, sorgte für Aufsehen, indem er 1905 seine arrangierte Ehe mit Claude de Gramont nach zehn Tagen beendete.[12] Ebenfalls in einem Skandal hatte 1894 die Ehe von Élisabeth Greffulhes Bruder geendet, Joseph de Riquet, Prince de Chimay et de Caraman (1858–1937), als dessen Frau, die reiche Amerikanerin Clara Ward, mit dem ungarischen „Zigeunerbaron“ Jancsi Rigó durchgebrannt war. 1906 verließ auch Anna Gould, Tochter des amerikanischen Eisenbahnmagnaten Jay Gould, ihren Ehemann, den Grafen Boni de Castellane (1867–1932), der sich durch diese Ehe saniert und das Geld seiner Frau mit beiden Händen hinausgeworfen hatte, unter anderem durch legendär aufwändige Feste, die Proust inspirierten. Die an Größenwahn grenzenden, verschwenderischen Empfänge des Grafen ließen Alphonse de Rothschild in einer Anwandlung von Mitleid sagen: »Man muß es gewohnt sein, mit so viel Geld umzugehen.«[13] „Mit seiner Eleganz und seinem hochmütigen Blick, dem goldenen Haar, den lapislazuliblauen Augen und den plötzlichen Bewegungen seiner hohen Gestalt besaß Boni körperliche Eigenschaften, die ihn zum unverwechselbaren Prototyp für Prousts Saint-Loup werden ließen.“[14]

1895 trat Proust eine unbezahlte Stelle als Bibliothekar in der Bibliothèque Mazarine an; allerdings war er dort mehr ab- als anwesend. Zuvor hatte er sein juristisches Studium ohne Examen beendet, aber in einem geisteswissenschaftlichen Studiengang seine Licence en lettres erhalten. Im selben Jahr nahm er seine Arbeit am Jean Santeuil auf, einem Romanprojekt, das unvollendet blieb, von dem dann aber später große Teile in die Suche nach der verlorenen Zeit einflossen.

Erste Veröffentlichungen

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Im Juni 1896 erschien Prousts erstes Buch, Les plaisirs et les jours. Es kostete ein Vermögen und war mehr als luxuriös gestaltet. Im Februar 1897 duellierte sich Proust mit dem Kritiker Jean Lorrain, der eine zweideutige Bemerkung über Prousts Freundschaft mit Lucien Daudet gemacht hatte (une amitié spéciale). Prousts Sekundanten waren der ihm freundschaftlich verbundene Maler Jean Béraud und der Berufsfechter Gustave de Borda („Säbel-Borda“).

Das Jahr 1898 stand im Zeichen der Forderungen nach einer Revision des Dreyfus-Prozesses; im selben Jahr arbeitete Proust an einer Übersetzung von John Ruskins The Bible of Amiens, bei der ihm Reynaldo Hahns Cousine, die Kunsthistorikerin Marie Nordlinger, unterstützte. Proust war vom Kunst-Enthusiasmus Ruskins fasziniert. Als dieser im Januar 1900 starb, veröffentlichte Proust im Mercure einen Nachruf. Seine Ruskin-Übersetzung erschien erst 1904, eine andere (Sesam und Lilien) 1906; hier waren ihm die ausgezeichneten Englischkenntnisse seiner Mutter von Nutzen. Im Sommer 1900 unternahm Proust Reisen allein und mit seiner Mutter nach Venedig sowie mit dem von ihm bewunderten Bertrand de Fénelon nach Flandern und Holland.

Im November 1903 starb Prousts Vater. Proust lebte nun weiter bei seiner Mutter, bis diese knapp zwei Jahre später starb. Er hatte sich angewöhnt, die Nacht zum Tag zu machen, sodass seine Mutter, wenn sie Zeit mit ihm verbringen wollte, um Mitternacht mit ihm soupieren musste. Nach dem Tod seiner Mutter verfiel er in eine tiefe Depression. Er nahm sich ein Zimmer in Versailles und verließ es fünf Monate lang nicht. Da er von seiner Mutter ein kleines Vermögen geerbt hatte, war er finanziell weitgehend unabhängig.

Am 6. Dezember 1905 begab sich Proust auf Empfehlung seines Arztes Édouard Brissaud für sechs Wochen zur Behandlung seiner Neurasthenie in das Sanatorium von Boulogne-Billancourt. Dort wurde er von dem Charcot-Schüler Paul Sollier mit Isolation und der Induzierung „unwillkürlicher Erinnerungen“ therapiert. Sollier hatte das Phänomen der „unwillkürlichen Erinnerung“ vor allem in seinem Buch Le Problème de la Mémoire analysiert und zu einem Therapieansatz ausgearbeitet.[15]

Boulevard Haussmann 102

Ab 27. Dezember 1906 wohnte Proust am Boulevard Haussmann 102. Die Sechszimmerwohnung hatte seinem Onkel mütterlicherseits, Louis Weil, gehört, der dort bis zu seinem Tod gelebt hatte. Trotz Staub und Straßenbahnlärm mietete Marcel Proust von seiner verwitweten Tante die freistehende Wohnung in der zweiten Etage, weil es ein Ort war, den seine Mutter gekannt hatte und der daher, wie er in einem Brief schreibt, „eine zärtliche und melancholische Anziehungskraft auf mich ausübte, die mich dorthin zurückzog.“ Proust blieb dort bis 1919 wohnen, als seine Tante das Gebäude an den Bankier René Varin-Bernier verkaufte; es ist bis heute Sitz von dessen Bank.[16] Es folgten Sommeraufenthalte in Cabourg und Trouville-sur-Mer, die ihm halfen, sich von seinem Kummer zu lösen. 1907 engagierte er Alfred Agostinelli in Cabourg als Chauffeur. 1912 wurde Agostinelli Prousts Sekretär, und ihre Beziehung zueinander wurde vertrauter.

Prousts Erscheinung war auffallend. Er war kreidebleich und trug wegen seines Asthmas auch an heißen Sommertagen einen dicken Schal, in Restaurants behielt er meist seinen Pelzmantel an. Der britische Diplomat Sir Harold Nicolson beschreibt ihn als „weißen, unrasierten, schmierigen Dinergast“. Proust hatte Nicholson über jedes Detail von dessen täglicher Arbeit auf der Gesandtschaft ausgefragt, wie er es überall zu tun pflegte, weil er alles Erlebte oder Gehörte als Fundstelle für literarischen Stoff ansah. Aufgrund seiner Lebensgewohnheiten erschien er auf Bällen oder Soiréen meist Stunden zu spät, doch fragte er anschließend Freunde über jedes Details des Verlaufs aus. Bei den Diners, die er selbst gab, saß er, um besser hinhören und hinsehen zu können, ohne zu essen, auf einem etwas abgerückten Stuhl und unterhielt sich nach dem Essen mit jedem Gast einzeln. Walter Benjamin schrieb: „Prousts Biographie ist deswegen so bedeutungsvoll, weil sie zeigt, wie hier mit seltner Extravaganz und Rücksichtslosigkeit ein Leben seine Gesetze ganz und gar aus den Notwendigkeiten seines Schaffens bezogen hat.“[17]

Auf der Suche nach der Verlorenen Zeit

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Ab Ende 1908 und im Lauf des Jahres 1909 machte Proust sich an die Konzeption und Ausarbeitung eines Essays, der den Titel Contre Sainte-Beuve tragen sollte. Dessen literaturtheoretischem Teil sollte eine kurze, beispielhafte Erzählung vorangestellt werden (siehe: Entstehung und Publikation der Suche nach der verlorenen Zeit). Im Juli 1909 zog Proust sich von der Welt zurück und begann mit der eigentlichen Arbeit an seinem Hauptwerk À la recherche du temps perdu, zu dem sich diese Beispielserzählung auswuchs.

Am 13. November 1913 erschien Du côté de chez Swann als erster Band der damals auf drei Bände konzipierten Romanfolge bei Grasset auf Prousts eigene Kosten, nachdem der Roman von den Verlegern, u. a. von André Gide, dem damaligen Lektor im Verlag Gallimard, abgelehnt worden war. Später sollte Gide dies als den größten Fehler seines Lebens bereuen. In dieser Ausgabe lag Combray noch in der Beauce; in den Ausgaben ab 1919 bei Gallimard wurde der Schauplatz in die Champagne verlegt, um Combray in das Geschehen des Ersten Weltkrieges einbeziehen zu können. Prousts Verleger Grasset hatte dafür gesorgt, dass der erste Band der SvZ umfangreich und positiv besprochen wurde; nebenher bezahlte Proust auch in einigen Fällen für den Abdruck positiver „Echos“ zu diesen Kritiken, die er dann auch gleich selbst schrieb – wohlgemerkt, diese „Echos“ waren Hinweise auf Kritiken, nicht die Kritiken selbst, ähnlich wie auch heute Verlage zur Anpreisung eines Buches gern aus Kritiken zitieren; diese Werbepraxis war damals gang und gäbe.[18]

Im Mai 1914 kam Agostinelli, nur Monate nachdem er aus Prousts Dienst entflohen war, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben, woraufhin Proust erneut in eine tiefe Depression stürzte. Die Haushälterin Céleste Albaret trat 1914 ihre Stellung bei Proust an. Sie half ihm nicht nur beim Haushalt, sondern wurde auch seine engste Vertraute und Mitarbeiterin, die ihm seine Manuskripte ordnete. Proust schuf aus beiden Mitarbeitern Romanfiguren seines entstehenden Werks.

1916 gelang es dem Verleger Gallimard, Proust dem Verleger Grasset abspenstig zu machen und für seine Literaturzeitschrift La Nouvelle Revue Française (N.R.F.) zu gewinnen. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erschienen dort der zweite Band der Recherche im November 1918 À l’ombre des jeunes filles en fleurs und 1919 eine Neuauflage von Du côté de chez Swann.

44, Rue de l’Amiral Hamelin, Paris. Hierher zog Proust 1919 und starb hier 1922.

Nachdem seine Tante 1919 das Haus am Boulevard Haussmann 102 verkauft hatte, zog Proust ein letztes Mal um: Der Wohnsitz, den er bis zu seinem Tod nicht mehr änderte, wurde 44, Rue de l’Amiral Hamelin. Im selben Jahr erschien Pastiches et mélanges. Im Dezember erhielt Proust für den zweiten Band seiner Recherche den Prix Goncourt, die höchste französische Auszeichnung für Literatur. Ein Jahr später wurde ihm eine weitere außerordentliche Auszeichnung zuteil: Er wurde zum Ritter der Ehrenlegion ernannt.

Von 1920 bis 1922 erschienen vier weitere Teilbände der Recherche, nämlich Du côté des Guermantes I und II sowie Sodome et Gomorrhe I und II.

Jan Vermeer: Ansicht von Delft

Im Mai 1921 besuchte Proust eine Ausstellung niederländischer Malerei im Jeu de Paume. Als er die Ansicht von Delft von Jan Vermeer betrachten wollte, erlitt er einen Schwächeanfall ähnlich wie die Romanfigur Bergotte in Band V der SvZ.

Im März 1922 begann Proust einen Briefwechsel mit Ernst Robert Curtius, einem deutschen Romanisten, der als einer der ersten in Deutschland auf Prousts herausragende Stellung in der modernen Literatur hinwies.

Am 18. November 1922 starb Marcel Proust 51-jährig an einer Lungenentzündung.[19] Am 22. November wurde er, als Ritter der Ehrenlegion, mit militärischen Ehren auf dem Friedhof Père-Lachaise neben seinen Eltern beigesetzt. Postum erschienen die letzten Bände der Recherche: La Prisonnière, La Fugitive und Le temps retrouvé. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Romanfragmente Jean Santeuil und Contre Sainte-Beuve ediert.

Prousts letztes Wohn- und Sterbehaus in der Rue de l’Amiral Hamelin 44 ist heute ein Hotel.[20] Sein Schlaf- und Sterbezimmer wurde mit Teilen des Originalmobiliars im Musée Carnavalet rekonstruiert; dort befindet sich neben seiner Chaiselongue, seinem Wintermantel und einem Spazierstock auch das einzige erhaltene Bruchstück jener Korkverkleidung, mit der er sich auf Vorschlag seiner Freundin Anna de Noailles[21] gegen akustische Belästigungen der Außenwelt abgeschottet hatte.[22] In seiner früheren Wohnung am Boulevard Haussmann 102, wo er von 1907 bis 1919 gewohnt und die meisten Bände der Recherche geschrieben hatte, wurde von der Bank Société Nancéienne Varin-Bernier, die dort heute ihre Büros hat, in Zusammenarbeit mit der Société des Amis de Marcel Proust das zweifenstrige Schlaf- und Arbeitszimmer neu hergerichtet, mit Kork tapeziert und für interessierte Besucher zugänglich gemacht.[23]

Proust (vorn) mit Robert de Flers (links) und Lucien Daudet (rechts) ca. 1896

Prousts Homosexualität ist erstmals aus den an seine Mitschüler Jacques Bizet und Daniel Halévy gerichteten Briefen ersichtlich, deren große Offenherzigkeit nahelegt, dass Proust schon in jungen Jahren kein sonderliches Problem mit seiner Veranlagung hatte – deutlich wird das dann auch an seiner späteren Auseinandersetzung mit Homosexualität in Sodom und Gomorrha I, welche sich aber von „Verteidigungsschriften“ wie etwa André Gides zeitgleichem Corydon insofern stark unterscheidet, als er in ihr den Standpunkt eines neutralen Beobachters einnimmt. Dass Prousts Freundschaft mit den beiden Adressaten nicht unter seiner stürmischen Werbung litt, spricht zudem dafür, dass man in seinem sozialen Umfeld zumindest teilweise größere Toleranz entgegenbrachte, als es der heutige Blick auf die damalige Zeit vermuten lassen könnte. Seine erste Liebeserfahrung scheint Proust mit Willy Heath gemacht zu haben, den er im Frühjahr 1893 kennenlernte. Heath starb ein halbes Jahr später an Typhus; ihm widmete Proust seinen Erstling Les Plaisirs et les jours (dt. Freuden und Tage).

1894 lernte Proust im Salon von Madeleine Lemaire den Komponisten Reynaldo Hahn kennen, der gemeinhin als Prousts erste große Liebesbeziehung angesehen wird, wenngleich die Beleglage äußerst dünn ist: Proust umschwärmte Hahn in seinen Briefen, wohingegen über dessen Haltung nichts bekannt ist. (Hahn war eng mit dem Pianisten Édouard Risler befreundet, aber die Korrespondenz wurde bislang nicht veröffentlicht.) Etliche der kleinen Eifersuchtsszenen zwischen Proust und Hahn, auf die Proust in seinen Briefen an diesen anspielt, erscheinen später in dem Kapitel Eine Liebe Swanns im ersten Band der Recherche auf Swann und Odette de Crécy gemünzt. Risler erscheint als junger Pianist im Salon der Madame Verdurin. Die Affäre mit Hahn ging 1896 zu Ende, als Proust sich dem 17-jährigen Sohn Lucien[24] des Dichters Alphonse Daudet zuwandte. Eine bekannte Photographie von Otto Wegener zeigt Proust um 1896 mit Lucien Daudet, der ihm vertraulich den Arm auf die Schulter legt, sowie dem Dichter Robert de Flers. Prousts Mutter ermahnte ihren Sohn brieflich, dieses Foto niemals anderen zu zeigen; vermutlich befürchtete sie, das Foto enthülle mehr, als sie sich eingestehen oder andere entdecken lassen wollte.[25] Lucien Daudet suchte später die Nähe zu Jean Cocteau.

1906 unternahm Proust zusammen mit dem von ihm verehrten Freund Bertrand de Fénelon eine Reise durch Holland und Belgien, von der er sich offenbar mehr versprochen hatte, als Bertrand zu geben bereit war, und nach der es mit der Freundschaft vorbei war. Als Bertrand bereits in den ersten Tagen des Ersten Weltkrieges fiel, stürzte Proust in eine tiefe Depression; er setzte Bertrand im vierten Band der SvZ ein namentliches Denkmal: „das klügste, beste und tapferste Wesen“.

Bis zum Tod seiner Eltern hielt Proust sich, was sein Liebesleben anbetraf, bedeckt, begann dann aber, in dem Männerbordell „Hôtel Marigny“ in der Rue de l’Arcade 11 zu verkehren, das sein literarisches Abbild in Jupiens Bordell im VII. Band der SvZ findet, wo der Baron de Charlus sich auspeitschen lässt. Proust kannte den Besitzer Albert Le Cuziat gut, einen früheren Diener des Herzogs de Rohan-Chabot und anderer Adelshäuser. Proust lieh ihm die von seinen Eltern geerbten Möbel zur Ausstattung des Etablissements, was für ihn den Reiz des „Verruchten“ noch erhöhte.[26] Er nannte Le Cuziat „meinen wandernden Gotha“, denn der konnte ihm zahlreiche Auskünfte geben, die für den Roman wichtig waren, über Verwandtschaften, Freundschaften und Feindschaften sowie über das Alltagsleben und die Gebräuche in den großen Häusern oder über Fragen der Etikette, wie etwa dem Vortritt und der Sitzordnung bei einem fiktiven Diner der Herzogin von Guermantes.[27]

1913 tauchte der Chauffeur Alfred Agostinelli wieder bei Proust auf und zog zusammen mit seiner Verlobten bei ihm ein. Trotz oder gerade wegen der Aussichtslosigkeit verliebte sich Proust in Agostinelli, wie aus den Briefen deutlich wird, die Proust schrieb, nachdem Agostinelli im Frühjahr 1914 nach Nizza zu seiner Familie „geflohen“ war und kurz darauf bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Die Beziehung mit Agostinelli prägte zu weiten Teilen die Bände Die Gefangene und Die Entflohene der SvZ, in denen die Romanheldin Albertine und deren Beziehung zum Ich-Erzähler nach dem Vorbild der Beziehung des Autors zu seinem Sekretär gestaltet ist.

Die wohl erste weibliche Jugendliebe Prousts war Marie de Bénardaky, eine Tochter russischer Eltern, die einen musischen Salon in der Rue de Chaillot führten. Sie gehörte neben ihrer Schwester Hélène (gen. Nelly) und den beiden Schwestern Antoinette und Lucie Faure zu dem Kreis von Barlauf-Spielern in den Champs-Élysées, dem sich der junge Proust im Sommer 1886 anschloss. In einem Brief an die Prinzessin Soutzo von 1918 bezeichnete er sie als „den Rausch und die Verzweiflung meiner jungen Jahre“.[28] Offenbar hat sie in weiten Teilen als Modell für die erste Liebe des Protagonisten der SvZ gedient, Gilberte Swann.

Mit vielen Frauen hatte Proust enge Beziehungen, die dem Konzept der „Gay Icon“ entsprachen, also der Faszination durch eine glamouröse Femme fatale. Vor allem hegte er eine überschäumende Bewunderung des allzu Weiblichen, der er besonders dann erlag, wenn die Frau schon verlobt oder verheiratet und damit für ihn unerreichbar war, wie Laure de Chévigné geb. de Sade, der er bei ihren Morgenspaziergängen auflauerte, Jeanne Pouquet, die mit seinem Freund Gaston Arman de Caillavet verlobt war, oder Louisa de Mornand, Schauspielerin und Geliebte von Prousts Freund Marquis d’Albufera und auch möglicherweise auch von Proust selbst. In einem Interview von 1928 mit der Wochenzeitschrift Candide behauptete diese jedenfalls, eine erotische Beziehung mit Proust gehabt zu haben. Die Comtesse Greffulhe, Hauptvorbild für die Herzogin von Guermantes in der SvZ, erzählte Jahrzehnte nach Prousts Tod: „Seine Schmeicheleien hatten eine gewisse Klebrigkeit, die nicht meinem Geschmack entsprach.“ Auch war er stets auf der Jagd nach aktuellen Fotos von ihr, um ihre wechselnde Garderobe genau beschreiben zu können, was sie natürlich nicht wusste und irritierend fand.[29]

Vorbilder für Prousts Figuren

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Proust identifizierte interessante Figuren in den von ihm frequentierten Gesellschaftskreisen mit der Besessenheit eines Naturwissenschaftlers, der seine Exemplare beobachtet, studiert, sammelt und vergleicht. Doch war er sorgfältig darauf bedacht, seine Vorgehensweise zu verbergen. Als 1913 der erste Band der SvZ erschienen war, wurde in höheren Pariser Zirkeln breit diskutiert und spekuliert, doch Proust behauptete: „Es gibt keinen Schlüssel zu den Figuren in meinem Roman... Oder vielmehr, es gibt acht oder zehn Schlüssel zu jeder Gestalt“. Von den drei Haupthelden der SvZ (Swann, Charlus und Albertine) waren bei Erscheinen der sie betreffenden Romanbände zwei der Vorbilder schon verstorben: Haas bereits 1902 und Prousts Sekretär Alfred Agostinelli 1914 − posthum wurde er zu dem für Außenstehende kaum identifizierbaren Vorbild der Figur Albertine. Haas und Montesquiou waren indessen ziemlich eindeutig wiederzuerkennen − und jeder in der Pariser société mondaine kannte sie. An den verstorbenen Haas wendet der Ich-Erzähler sich in dem Band Die Gefangene ganz direkt: „Und doch, lieber Charles..., so wenig ich Sie kannte, als ich noch jung war, Sie aber schon dem Grabe zuwankten, fängt man doch wohl deshalb, weil derjenige, den Sie damals sicher für einen unbedeutenden jungen Toren hielten, Sie zum Helden seiner Romane erkoren hat, jetzt wieder von Ihnen zu reden an, und nur daraufhin werden Sie vielleicht weiterleben“.[30] Montesquiou war zunächst empört, als exaltierter schwuler Baron Charlus zwei ganze Romanbände zu füllen (die Welt der Guermantes und Sodom und Gomorrha − Proust leugnete alles), gewöhnte sich dann aber im Lauf der Jahre an seine literarische Prominenz und sagte 1920, „eigentlich sollte ich mich von nun an Montesproust nennen“. Er bedauerte lediglich, dass Prousts Genie auf Kosten seines eigenen anerkannt worden sei, da er als Dichter nicht zählte, sondern nur Stoff hergab. Prousts Haushälterin Céleste Albaret berichtete später: „Und von dem Tage an, an dem Proust seinen Charlus unter Dach und Fach hatte, war es wie bei allen anderen: er brach die Brücken ab. Aber solange er den Betreffenden studieren musste, folgte er ihm auf Schritt und Tritt“.[31]

Demgegenüber stellten andere Hauptpersonen tatsächlich ein Destillat aus mehreren Vorbildern dar, so etwa die bourgeoise Salonnière Madame Verdurin, die Herzogin von Guermantes oder der Marquis de Saint-Loup. Ein großer Strom von Nebenfiguren wurde im Lauf der Zeit identifiziert, es handelte sich teils um Prominente wie Gabriel Fauré und Claude Debussy (die für den Klavierlehrer und Komponisten Vinteuil Pate standen), Claude Monet (als Maler Elstir), Anatole France (als Schriftsteller Bergotte), Victor Brochard (als Professor Brichot), Édouard Risler (als „junger Pianist“ in Madame Verdurins Salon), oft aber auch um gänzlich Unbekannte wie Prousts Tanten aus Illiers, seinen Chauffeur, seine Haushälterin und anderes Dienstpersonal. Proust verschleierte, so gut es ging, seine Inspirationsquellen, denn er sah die Gefahr, dass sein gesellschaftlicher Ehrgeiz (und damit der Zugang zu seinen Quellen) mit seiner dichterischen Freiheit kollidieren könnte. In einem Gespräch mit Madame Straus sagte er: „Wenn sich herausstellt, daß eine meiner Gestalten später andere vergiftet oder Inzest begeht, wird sie denken, ich meinte sie!“[32] − Mit dem Abstand eines Jahrhunderts betrachtet, verdankt jedoch nicht nur Haas, sondern nahezu jedes der Vorbilder von Prousts Figuren ebendiesem Werk, dass man ihre Namen noch nennt, ihre Bilder ansieht, sich für ihre Persönlichkeit, ihren Charakter, ihr Leben interessiert, welche allesamt dem Leser so lebendig vor Augen gestellt werden. Das gilt auch für den Ich-Erzähler „Marcel“ selbst, der die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens gänzlich diesem Werk, seinem Opus magnum, gewidmet hat.

Literaturgeschichtliche Einordnung

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Prousts Hauptwerk ist Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (À la recherche du temps perdu) in sieben Bänden. Dieser monumentale Roman ist eines der bedeutendsten erzählenden Werke des 20. Jahrhunderts.

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist eine fiktive Autobiographie mit raffinierter Struktur: Ein weitgehend anonymes „Ich“, das aber möglicherweise „Marcel“ heißt, erzählt von seinen zum Teil vergeblichen Versuchen, sich an seine Kindheit und Jugend zu erinnern. Was ihm mit „willentlicher Erinnerung“ nicht gelingt, ermöglichen ihm schließlich eine Reihe „unwillkürlicher Erinnerungen“ – Sinnesassoziationen oder Flashbacks, die Erlebnisse der Vergangenheit auf intensive Weise vergegenwärtigen und damit erinnerbar machen; das berühmteste Beispiel ist der Geschmack einer in Tee getauchten Madeleine, der den Ort seiner Kindheit, Combray, in ganzer Fülle wiederauferstehen lässt. Am Ende des Romans entschließt sich das „Ich“, die auf diese Weise wiedererlebte und damit „wiedergefundene“ Zeit nun in einem Roman festzuhalten.

Seiten aus A la recherche du temps perdu mit Prousts handschriftlichen Korrekturen

Während die historisch zuerst entstandenen Anfangs- und Schlussteile des Romans hauptsächlich Prousts zwei Formen der Erinnerung thematisieren, wird im Mittelteil, etwa ab Mädchenblüte, das schon gleich zu Anfang in Aussicht gestellte „ungeheure Bauwerk der Erinnerung“ durch präzise, perspektivisch wechselnde, teilweise ironisierende Beschreibungen der mondän-dekadenten Gesellschaft der Jahrhundertwende und des Innenlebens ihres Betrachters (des Erzählers) aus kleinsten Beobachtungsatomen mosaikartig aufgebaut. Prousts Technik, auch noch den winzigsten Details allein schon durch ihre ausufernde Beschreibung Funktion zuzuweisen, hat später im Nouveau Roman eine Weiterentwicklung erfahren.

Literaturhistorisch bedeutend ist Prousts Roman vor allem deshalb, weil er mit einer bis dahin ungekannten Konsequenz die Subjektivität der menschlichen Wahrnehmung inszeniert, mit all ihren Nachteilen und Möglichkeiten: So zeigt er einerseits, dass kein Mensch die Wirklichkeit oder Wahrheit als solche erkennen kann, sondern allenfalls eine subjektive Wahrheitsvorstellung besitzt. Andererseits entfaltet jeder Mensch in seiner subjektiven Wahrheit eine einzigartige Welt, jeder Mensch ist ein eigener Kosmos.

Das Erzählen und damit die Literatur werden von Proust als eine Möglichkeit entdeckt, anderen Menschen zumindest Teile dieser einzigartigen, subjektiven Welt eines „Ich“ zugänglich zu machen.

Das Motiv der versagenden Erinnerung, mit der ein „Ich“ sich quält und an der es die prinzipielle Unzugänglichkeit der Wirklichkeit erfährt, wurde in der französischen Literatur vor allem von Claude Simon aufgegriffen und neu bearbeitet, nun mit Bezug auf die Kriege des 20. Jahrhunderts. Zu den Autoren, die sich von Proust inspirieren ließen, gehören unter anderen Robert Musil, James Joyce, Samuel Beckett, Walter Benjamin und Gilles Deleuze.

Aus jüdischer Perspektive befasste sich erstmals Hermann Grab 1933 mit dem Werk, das zuvor noch nicht unter Berücksichtigung dieses Aspekts betrachtet worden war. Grab konzentrierte sich dabei vor allem auf die Figuren des Charles Swann und des Albert Bloch, in denen er gegensätzliche Strategien des Umgangs mit gesellschaftlicher Exklusion erkannte. An Grabs Interpretation zeigt sich dabei beispielhaft die Suche nach Bewältigungsmöglichkeiten eigener Verfolgungserfahrungen in der Literatur.[33]

Madeleine-Effekt bzw. Proust-Phänomen

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Der gelegentlich auftretende Effekt, dass ein Geschmacks- oder Geruchserlebnis plötzlich ganz bestimmte Erinnerungen hervorruft, wird nach der berühmten Madeleine-Szene in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit als Madeleine-Effekt, Proust-Effekt oder Proust-Phänomen (im Französischen metonymisch als madeleine de Proust) bezeichnet.[34][35][36]

Zweisprachige Ausgaben (Französisch/Deutsch)

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Werke in deutscher Übersetzung

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Prousts Grab (Père-Lachaise)
  1. Combray. ISBN 3-935890-06-0.
  2. Eine Liebe Swanns. ISBN 3-935890-22-2.
  1. Auf dem Weg zu Swann. ISBN 978-3-15-010900-7.
  2. Im Schatten junger Mädchenblüte. ISBN 978-3-15-010901-4.
  3. Der Weg nach Guermantes. ISBN 978-3-15-010902-1.
  4. Sodom und Gomorrha. ISBN 978-3-15-010903-8.
  5. Die Gefangene. ISBN 978-3-15-010904-5.
  6. Die Entflohene. ISBN 978-3-15-010905-2.
  7. Die wiedergefundene Zeit. ISBN 978-3-15-010906-9.

Briefe (Auswahl)

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Marcel Proust hat seit Jugendjahren täglich Briefe an unterschiedliche Korrespondenten geschrieben, die ab 1926 publiziert wurden und inzwischen viele Bände umfassen.

  • Robert de Billy, Marcel Proust. Lettres et conversations. Éditions des Portiques, Paris 1930.
  • Correspondance générale (1930–1936). 6 Bände.
Eine erste Ausgabe eines Briefwechsels mit unterschiedlichen Korrespondenten, alphabetisch geordnet, die von Robert Proust und Paul Brach herausgegeben wurde.
  • Correspondance. 21 Bände. Plon, Paris 1971–1993.
Diese chronologisch geordnete Ausgabe, hrsg. von Philip Kolb, enthält auch die Briefe der fünfbändigen Ausgabe von 1930, sowie einen umfangreichen Anhang mit Anmerkungen.
  • Marcel Proust. Lettres. Plon, Paris 2004.
Eine Auswahl von Briefen aus der 21-bändigen Ausgabe von 1971–1993, ergänzt um unveröffentlichte Briefe durchgesehen u. hrsg. von Françoise Leriche.
  • Marcel Proust: Briefwechsel mit der Mutter. Herausgegeben u. übersetzt von Helga Rieger. 4. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-518-01239-8.
  • Briefe zum Werk. Hrsg. Walter Boehlich. Übers. Wolfgang A. Peters. 2 Bände. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1964.
  • Briefe 1879–1922. Hrsg. von Jürgen Ritte. Aus d. Franz. von Jürgen Ritte, Achim Risser u. Bernd Schwibs. 2 Bände. Suhrkamp, Berlin 2016, ISBN 978-3-518-42540-4. (Übers. von Marcel Proust. Lettres. Plon, Paris 2004.)
  • Marcel Proust – Reynaldo Hahn / Der Briefwechsel. Hrsg. und übersetzt von Bernd-Jürgen Fischer. Reclam, Stuttgart 2018, ISBN 978-3-15-011170-3.

Englischsprachige Übersetzungen

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Nachschlagewerke
Monographien

(Alphabetisch nach Autoren)

Siehe auch:

  • Proustiana. Mitteilungen der Marcel Proust Gesellschaft. Insel Verlag. Überblick
  • William Howard Adams: Proust Figuren und ihre Vorbilder. Mit Fotos von Paul Nadar. Aus dem Amerikanischen von Christoph Groffy. Insel Taschenbuch, Frankfurt am Main und Leipzig 2000, ISBN 978-3-458-34340-0.
  • Bernd-Jürgen Fischer (Hrsg.): Auf der Suche nach Marcel Proust. Ein Album in Bildern und Texten. Reclam, Ditzingen 2020, ISBN 978-3-15-011309-7.
Commons: Marcel Proust – Album mit Bildern
Wikisource: Marcel Proust – Quellen und Volltexte (französisch)

Proust-Gesellschaften

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  1. In Search of Lost Time. In: Encyclopædia Britannica.
  2. FemBio von Jeanne Proust
  3. Madame Proust: A Biography. In: Literary Review, Internet Archive
  4. Die eiskalte Sphäre der Hocharistokratie, von Marie-Luise Scherer in: Der Spiegel, 12.02.1984
  5. George D. Painter: Marcel Proust. In: Encyclopædia Britannica.
  6. Im Kapitel Combray des ersten Bandes In Swanns Welt.
  7. William C. Carter: Marcel Proust: A Life. 2000, S. 33.
  8. Marcel Proust - Der Briefwechsel mit Reynaldo Hahn. Übersetzt und herausgegeben von Bernd-Jürgen Fischer. Reclam, Stuttgart, 2018
  9. Als Einstieg ins Thema „Proust und das Komische“ siehe z. B. Pierre Quint: Comique & Mystere chez Proust. Ed. Kra, 1928, oder aus neuerer Zeit Hippolyte Wouters: L’humour du côté de chez Proust. Poche, 2016.
  10. Die eiskalte Sphäre der Hocharistokratie, von Marie-Luise Scherer in: Der Spiegel, 12.02.1984
  11. William Howard Adams: Prousts Figuren und ihre Vorbilder. Mit Fotos von Paul Nadar. Insel Taschenbuch, Frankfurt am Main/Leipzig 2000, S. 58–61
  12. William Howard Adams: Prousts Figuren und ihre Vorbilder. Mit Fotos von Paul Nadar. Insel Taschenbuch, Frankfurt am Main/Leipzig 2000, S. 118, 159, 165.
  13. Zu Boni de Castellane siehe: Die eiskalte Sphäre der Hocharistokratie, von Marie-Luise Scherer in: Der Spiegel, 12.02.1984
  14. William Howard Adams: Prousts Figuren und ihre Vorbilder, S. 121–122
  15. Julien Bogousslavsky, Olivier Walusinski: Marcel Proust and Paul Sollier. The Involuntary Memory Connection. In: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie. Band 160, Nr. 4, 2009, S. 130–136. (baillement.com PDF, 540,9 kB)
  16. The Paris of Proust, auf: proust-ink.com
  17. Die eiskalte Sphäre der Hocharistokratie, von Marie-Luise Scherer in: Der Spiegel, 12.02.1984
  18. Marcel Proust zahlte für positive Kritiken in Zeitungen. Webseite des ORF.
  19. Triumph der Kunst über den Tod, Kölner Stadtanzeiger
  20. Website Hotel Elysées Union
  21. The Cork-Lined Bedroom & Writing Room of Marcel Proust, the Original Master of Social Distancing, 30. März 2020, openculture.com
  22. Ausstellung zu Prousts Paris, in: FAZ, 21. Januar 2022
  23. Gegen den Lärm: Marcel Prousts Korkzimmer, in: FAZ, 24. Juni 1996
  24. Siehe englischen Artikel Lucien Daudet
  25. William Howard Adams, Prousts Figuren und ihre Vorbilder, Insel 2000, S. 30. Den Brief habe Mina Kirstein Curtiss bei ihren Proust-Recherchen entdeckt.
  26. Ein Wollschal selbst in der Sommerhitze, in: FAZ, 16.11.2022
  27. William Howard Adams: Prousts Figuren und ihre Vorbilder, Insel Taschenbuch 2640, Frankfurt 2000, S. 37
  28. (Corr. XVII, S. 175).
  29. Mina Curtiss, Other People's Letters, Boston, Houghton Mifflin Company, 1978, S. 176.
  30. Suhrkamp Taschenbuchausgabe, Band 5, Die Gefangene, S. 264f.
  31. Céleste Albaret: Monsieur Proust, aufgezeichnet von Georges Belmont, aus dem Französischen übertragen von Margret Carroux, München 1974, S. 247
  32. Zit. von William Howard Adams: Prousts Figuren und ihre Vorbilder. Mit Fotos von Paul Nadar. Insel Taschenbuch, Frankfurt am Main/Leipzig 2000, Einleitung S. 18
  33. Literarischer Ausweg | Mimeo. Abgerufen am 1. Dezember 2021.
  34. Proust-Effekt. Online-Lexikon für Psychologie und Pädagogik von W. Stangl, abgerufen am 3. November 2021
  35. Simon Chu, John Joseph Downes: Long live Proust: the odour-cued autobiographical memory bump. In: Cognition, 15. Mai 2000, PMID 10771279 (engl., Abstract + Similar articles)
  36. Text der Madeleine-Episode
  37. Die Übersetzung war umstritten, sie wurde heftig kritisiert, u. a. von Ernst Robert Curtius. Darauf wechselte der Verlag die Übersetzer, siehe folgendes. Die Unterschiede der Ausgaben, auch in der Aufmachung, immer im Buchdesign von Georg Salter, bilden bis heute ein weites Arbeitsfeld für Antiquare.
  38. Die Titelgeschichte wird auch als Tage der Freuden verlegt, z. B. Ullstein 1960 und copyright-freie Nachdrucke
  39. Besprechung von Tadiés Proust-Biografie: Gerrit Bartels: Das Innere der Außenwelt. In: Tagesspiegel. 29. Dezember 2008 (Online).
  40. Jacques Sereys à la recherche de Proust, Théâtre contemporain, abgerufen am 17. Mai 2023
  41. Marcel, d’après la recherche du temps perdu, Caramba, abgerufen am 22. März 2023