Theodistik

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Die Theodistik ist eine junge Disziplin innerhalb der historischen Sprachwissenschaft, die das historische Verhältnis zwischen der niederländischen und deutschen Sprache erforscht. Sie wird als Subdisziplin der historischen Sprachwissenschaft definiert, die sich ihrem Forschungsthema (dem historischen Verhältnis von Deutsch und Niederländisch) durch eine Vielfalt an Zugangsweisen nähert.

Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit gab es in dem heutigen deutschen und niederländischen Sprachgebiet keine standardsprachlichen Einheitsareale, sondern ein Kontinuum kontinentalwestgermanischer Dia- und Regiolekte, das die ineinander fließenden Teilkomplexe des Deutschen, Niederländischen und Niederdeutschen umfasste und mit der gemeinsamen Selbstbezeichnung diutesch, duutsch (später diphthongiert: duytsch), dietsch und düdesch belegt wurde. Bei diesen Termini handelt es sich bestimmt nicht um Einzelbenennungen für das Deutsche, Niederländische und Niederdeutsche, sondern lediglich um regionale Lautvarianten ohne Bedeutungsunterschied, die sich alle auf ein gemeinsames, intern stark differenziertes Diasystem bezogen. Der belgische Linguist Luc De Grauwe plädierte dafür, dieses Diasystem aufgrund der Selbstbezeichnung als „Theodisk“ zu bezeichnen. Der Vorteil dieses Namens sei, dass er eine überregionale Zusammengehörigkeit des Kontinentalwestgermanischen gegenüber der lateinischen Bildungssprache und den benachbarten romanischen Volksvarietäten zum Ausdruck bringe, während gleichzeitig alle potenziell anachronistischen Assoziationen mit den modernen Bezeichnungen „Deutsch“ und „Niederländisch“ vermieden würden.[1]

Definition und Hintergrund

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Die Theodistik ist ein Versuch, zwei vorherrschende traditionelle Positionen zum Verhältnis zwischen Niederländisch und Deutsch in Einklang zu bringen.

Traditionell lassen sich zwei Perspektiven unterscheiden. Eine, in dem Niederländisch als ein Dialekt des Deutschen gilt, der seinen Ursprung im Mittelalter hat, sich allmählich vom Deutschen abspaltete und sich dann zu einer eigenständigen Standardsprache entwickelte. Diese Sichtweise hat ihren Ursprung im deutschen Humanismus und war in der Germanistik des 19. und Teilen des 20. Jahrhunderts vorherrschend, wo sie häufig mit nationalistischen Ideologien in Verbindung gebracht wurde und manchmal zur Legitimierung einer „annexationistischen Raumpolitik“ genutzt wurde. Bei der zweiten Perspektive werden Niederländisch und Deutsch von Anfang an als zwei getrennte, wenn auch eng verwandte Sprachen betrachtet. Diese Sichtweise, heute allgemein anerkannt, ist frei von Chauvismus und Nationalismus, aber empfindlich gegenüber Anachronismen und Teleologie, da die Möglichkeit besteht, dass die niederländische und deutsche Einheitsareale, wie sie heute bestehen, in eine Vergangenheit zurückprojektiert werden, wo von ihnen in der sprachlichen Wirklichkeit noch keine Rede war, und dass weitere Sprachen und Varietäten (insbesondere das Niederdeutsche) vernachlässigt werden, obwohl diese im historischen Verhältnis des Deutschen zum Niederländischen ebenfalls eine Rolle gespielt haben.[2][3]

Forschungsgebiet

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Die Gegenstandsbereiche der Theodistik lassen sich in zwei Hauptbereiche gliedern, die jeweils drei Untergliederungen haben: der metasprachliche Bereich, bestehend aus Forschungen zu Sprachbewusstseinsgeschichte, Begriffsgeschichte und Diskurs- und Ideologiegeschichte, und der objektgeschichtliche Bereich, der sich mit Sprachsystemgeschichte, Literaturgeschichte und Variations- und Varietätengeschichte als Untergliederung befasst.

Die theodistische Forschung hat sich bisher vor allem auf solche Aspekte der (externen) Sprachgeschichte konzentriert, die metasprachlichen Charakter haben. Dazu zählen insbesondere die Geschichte der sprachlichen Selbstbezeichnungen, das Sprachbewusstsein sowie die Darstellung des historischen Verhältnisses zwischen Deutsch und Niederländisch in der deutschen und niederländischen Sprachgeschichtsschreibung. Der bislang am wenigsten untersuchte Bereich der Objektgeschichte betrifft die Variations- und Varietätengeschichte. Ein zentraler Aspekt dieses Feldes ist die Frage, wie der Zerfall des Theodisk und die Entstehung des modernen Deutschen und Niederländischen auf der Grundlage der Quellen angemessen beschrieben werden können. Im Bereich der Literaturgeschichte kann die Theodistik an die Erkenntnis anknüpfen, dass bestimmte mittelalterliche Autoren nicht klar der deutschen oder niederländischen Literatur zugeordnet werden können. Ein Paradebeispiel eines solchen ‚theodistischen‘ Autors ist Heinrich von Veldeke.[4]

Einzelnachweise

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  1. Luc De Grauwe: Das historische Verhältnis Deutsch-Niederländisch ‘Revisited’. Zur Nicht-Existenz von Einheitsarealen im Sprachbewußtsein des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit, 1992. In: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 35. S. 191–205.
  2. Luc De Grauwe: Theodistik. Zur Begründung eines Faches und ein Plädoyer für eine kontinentalwestgermanische Sicht auf die neuzeitliche Bifurkation Deutsch/Niederländisch, 2003. In: Berthele, Raphael/Christen, Helen/Germann, Sibylle/Hove, Ingrid (Hg.): Die deutsche Schriftsprache und die Regionen. Entstehungsgeschichtliche Fragen in neuer.
  3. Jan Goossens: Was ist Deutsch – und wie verhält es sich zum Niederländischen? In: Ausgewählte Schriften zur niederländischen und deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, 2000. Herausgegeben von Heinz Eickmans, Loek Geeraedts, Robert Peters. Münster/New York/München/Berlin: Waxmann, S. 331–358.
  4. Sarah De Groodt & Torsten Leuschner: Kausal-konditional-konzessive Subjunktoren im Westgermanischen Theodistik als Sprachsystemgeschichte aus funktional-typologischer Sicht. In: Germanistische Mitteilungen 59, 2004. S. 50–58.