Volksmedizin

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Der nicht exakt definierte Begriff Volksmedizin (auch Volksheilkunde), zum Teil auch Laienmedizin[1] genannt, umfasst das in der nichtärztlichen Bevölkerung überlieferte Wissen über Krankheiten, Heilmethoden und Heilmittel. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnet die in ethnischen Kulturen überlieferte und gepflegte Volksmedizin als traditionelle Medizin. Die Ethnomedizin untersucht weltweit unter anderem die Ethnobotanik und Ethnopharmazie der einzelnen Völker.

Die Entstehung der Volksmedizin reicht zurück bis in die Urgeschichte der Menschheit. Zum frühen Sammeln von Erfahrungen durch reines Ausprobieren – beispielsweise von Heilpflanzen oder von Heilmitteln tierischen[2][3] oder mineralischen Ursprungs – kamen auch Beobachtungen von Tieren hinzu, die bei Krankheit instinktiv bestimmte Pflanzen fressen.

Schon früh dürften Schlussfolgerungen und theoretische Erwägungen entstanden sein, etwa die bevorzugte Anwendung von Pflanzen mit leberförmigen Blättern bei Leberleiden oder von gelbblühenden Pflanzen bei Gelbsucht gemäß der Signaturenlehre. Solche Überlegungen werden von ihren Kritikern als Aberglaube[4] eingeordnet. Leitend ist dabei die Vermutung, dass ähnliche Stoffwechselfunktionen bei Mensch und Pflanze zu Gestaltähnlichkeiten führen; die Gabe einer solchen Pflanze könne beim kranken Menschen zu einer Harmonisierung eben jener Stoffwechselfunktionen führen. Solche Überlegungen führen zur Gewinnung von Hypothesen, die durch die heilkundliche Praxis bestätigt oder widerlegt werden müssen (siehe auch Pflanzenheilkunde). In der Medizin des Altertums finden sich erste schriftliche Quellen auch zur früheren Volksmedizin.

Methoden und Mittel der Volksmedizin

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Zu den Heilmethoden gehören seit der Steinzeit auch chirurgische Eingriffe („Volkschirurgie“[5]), wie archäologische Funde belegen. Beispielsweise finden sich Zeugnisse von Trepanationen und anderen chirurgischen Eingriffen auch im altägyptischen medizinischen Wundenbuch (das Papyrus Edwin Smith, siehe auch Medizin im Alten Ägypten).[6] Weiterhin gehören hierzu Schwitzkuren, verschiedene Arten des Heilfastens oder die Schienung von Knochenbrüchen. Vor allem in der Volksmedizin finden sich auch Anwendungsformen der Organotherapie[7] (vgl. hierzu auch Kyraniden).[8] Die Volksmedizin hat auch philosophische und religiöse Komponenten, die vielfach bis heute die Fastenzeit prägen. Weitere Praktiken der Volksmedizin sind Zahlenmagie und die Verwendung von Amuletten.

Europäischer Kulturraum

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das medizinische Volkswissen im europäischen Kulturraum (etwa in einer als von etwa 2000 v. Chr. bis 400 n. Chr. nachweisbaren Heilkunde im germanisch-keltischen Altertum[9] vor und neben der Klostermedizin bestehenden „germanischen Heilkunde“[10]) wurde über Generationen hinweg weiterentwickelt. Quellen der altgermanischen Heilkunde und der ihr ähnlichen Medizin der Kelten (bzw. Gallokelten), bei denen die Mistel als Panazee galt, sind prähistorische Funde und Ausgrabungen, Berichte römischer Feldherren und Schriftsteller wie Julius Cäsar und Tacitus, die Volksrechte, alte norwegisch-isländische Eddalieder und die isländischen Sagas. Eine bedeutende Quelle zur antiken Volksheilkunde stellen die Bücher 20–32 der Naturalis historia („Naturgeschichte“) von Plinius, der die damalige Schulmedizin kritisch betrachtete, dar.[11] Das medizinische Volkswissen ist heute eng mit der Naturheilkunde verwandt. Die Trennung von der Schulmedizin begann spätestens ab dem 19. Jahrhundert mit der zunehmenden medizinischen Forschung an Hochschulen und der Entwicklung chemischer Arzneimittel. Moderne Präparate basieren sehr oft auf Wirkstoffen, die auch in der Volksmedizin verwendet wurden. Nur sind dabei die jeweiligen Wirkstoffe isoliert, chemisch analysiert und werden teils synthetisch hergestellt.

Volksmedizin und Schulmedizin

Im Mittelalter hatten Kräutersammler (Wurzler) und der Bader eine wichtige heilkundliche Funktion, besonders wenn die Inanspruchnahme eines Arztes zu teuer war. Die Berufsgruppe der Bader galt bis etwa 1400 als unehrenhaft und erhielt erst 1548 Zunftrechte. Gemeinsam mit den Barbieren waren sie so genannte Handwerksärzte – im Gegensatz zu Ärzten mit akademischen Ausbildung – und ihre Ausbildung genau geregelt. Mit dem Aufkommen des Medizinstudiums gab es heftige Auseinandersetzungen zwischen Medizinern „alter und neuer Schule“, die bis heute nachwirken. In Deutschland[12][13][14] und teilweise auch in Österreich und der Schweiz hatten Laienärzte oder Bauerndoktoren noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts eine wichtige Stellung bei der medizinischen Betreuung von Mensch und Vieh in ländlichen Gebieten, so beispielsweise der weit über die Steiermark[15] hinaus berühmte Höllerhansl.

Eine medizinische Aufwertung erfuhren Teile der Volksmedizin, die „Volksarzneimittel“, mit Publikationen von Ärzten wie Johann Friedrich Osiander (1826) oder Georg Friedrich Most (1843).[16]

In der mexikanischen Volksmedizin finden sich Traditionen der aztekischen Medizin.[17] In Chinas Bevölkerung nimmt die Volksmedizin heute einen fast gleichwertigen Rang neben der Schulmedizin ein und die traditionelle chinesische Medizin (TCM) wird an Hochschulen gelehrt. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren dort in ländlichen Gegenden viele sogenannte Barfußärzte tätig, da es noch nicht genügend studierte TCM-Ärzte gab. Ähnliches gilt auch für viele andere Regionen weltweit.

  • C. Bakker: Volksgeneeskunde in Waterland. Amsterdam 1928.
  • Liliana Burilkova, Nikola Zaprianov: Über Diagnostik und Prognostik in der bulgarischen Volksmedizin. In: Christa Habrich, Frank Marguth, Jörn Henning Wolf (Hrsg.) unter Mitarbeit von Renate Wittern: Medizinische Diagnostik in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Heinz Goerke zum sechzigsten Geburtstag. München 1978 (= Neue Münchner Beiträge zur Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften: Medizinhistorische Reihe. Band 7/8), ISBN 3-87239-046-5, S. 195–204.
  • Elfriede Grabner (Hrsg.): Volksmedizin (= Wege der Forschung. Band 639). Darmstadt 1967.
  • Gheorghe Bratescu: Zur Bedeutung der Diagnose in der Ethnomedizin unter besonderer Berücksichtigung der rumänischen Volksmedizin. In: Christa Habrich, Frank Marguth, Jörn Henning Wolf (Hrsg.) unter Mitarbeit von Renate Wittern: Medizinische Diagnostik in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Heinz Goerke zum sechzigsten Geburtstag. München 1978 (= Neue Münchner Beiträge zur Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften: Medizinhistorische Reihe. Band 7/8), ISBN 3-87239-046-5, S. 185–194.
  • Enrique Blanco Cruz: Von der Volkskrankheit zur Krankheit des Teufels. Volksmedizin in Peru. Vervuert, Frankfurt am Main 1985, ISBN 3-921600-36-7.
  • Paul Diepgen: Deutsche Volksmedizin, wissenschaftliche Heilkunde und Kultur. Enke, Stuttgart 1935, DNB 572859309.
  • Paul Diepgen: Volksmedizin und wissenschaftliche Heilkunde: Ihre geschichtlichen Beziehungen. In: Volk und Volkstum (Jahrbuch für Volkskunde) 2, 1937, S: 37–53; auch in: Volksmedizin: Probleme und Forschungsgeschichte. Hrsg. von Elfriede Grabner, Darmstadt 1967, S. 200–222.
  • Paul van Dijk: Volksgeneeskunst in Nederland en Vlaanderen (De volksgeneeskundige recepten zijn mede bewerkt door Hanneke Winterwerp). Deventer 1981.
  • Elfriede Grabner (Hrsg.): Volksmedizin: Probleme und Forschungsgeschichte (= Wege der Forschung. Band 63). Wissenschaftliche Buchgemeinschaft, Darmstadt 1967 DNB 458546542.
  • Karl Hauck: Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, XIV: Die Spannung zwischen Zauber- und Erfahrungsmedizin, erhellt an Rezepten aus zwei Jahrtausenden. In: Frühmittelalterliche Studien. Band 11, 1977, S. 414–510.
  • Peter Heinsberg: Alte und neue Volksmedizin. Innsbruch/Wien/München 1968.
  • Max Höfler: Volksmedizinische Botanik der Germanen. Wien 1908 (= Quellen und Forschungen zur deutschen Volkskunde. Band 5); Neudruck: VWB – Verlag für Wissenschaft und Bildung, Berlin 1990 (= Ethnomedizin und Bewußtseinsforschung: Historische Materialien. Band 11), ISBN 3-927408-41-7.
  • Françoise Loux: Das Kind und sein Körper in der Volksmedizin. Herausgegeben von Kurt Lüscher. Nachwort von Kurt Lüscher. Klett-Cotta, Stuttgart 1991 (Originaltitel: Le jeune enfant et son corps dans la médecine traditionelle), übersetzt von Hainer Kober, ISBN 3-12-935020-9.
  • Heinrich Marzell: Die Volksmedizin. In: Adolf Spamer (Hrsg.): Die deutsche Volkskunde, Band I. Berlin und Leipzig 1934/35, S. 168–182, DNB 368585891.
  • Carly Seifarth: Aberglaube und Zauberei in der Volksmedizin. Bohmeier, Leipzig 2005, ISBN 3-89094-436-1 (Dissertation Universität Leipzig 1913, 134 Seiten).
  • Michael Simon: „Volksmedizin“ im frühen 20. Jahrhundert. Zum Quellenwert des Atlas der deutschen Volkskunde (= Studien zur Volkskultur. Band 28). Gesellschaft für Volkskunde in Rheinland-Pfalz, Mainz 2003, ISBN 3-926052-27-9 (Habilitationsschrift Universität Münster 1996, 286 Seiten).
  • Carlos Watzka: Stellenwert und Gestaltung der Therapie psychischer Erkrankungen in der frühneuzeitlichen Volksmedizin am Beispiel des Herzogtums Steiermark. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen. Band 24, 2005, S. 144–161. ISSN 0177-5227
  • Eberhard Wolff: „Volksmedizin“ – Abschied auf Raten: Vom definitorischen zum heuristischen Begriffsverständnis. In: Zeitschrift für Volkskunde. Band 94, 1998, S. 233–257.
  • Eberhard Wolff: Zwischen „Volksmedizin“ und „Naturheilkunde“: Zürcher medizinische Alternativen. In: Gesnerus. Band 58, 2001, S. 276–283 (Digitalisat).
  • Eberhalb Wolff: Volksmedizin. In: Historisches Lexikon der Schweiz. 27. Dezember 2014.
  • Oskar von Hovorka, Adolf Kronfeld: Vergleichende Volksmedizin. Eine Darstellung volksmedizinischer Sitten und Gebräuche, Anschauungen und Heilfaktoren, des Aberglaubens und der Zaubermedizin. 2 Bände. Stuttgart 1908–1909.
Wiktionary: Volksmedizin – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Vgl. etwa Johannes Gottfried Mayer, unter Mitwirkung von Kurt Hans Straub: Gegen Pest und Laienmedizin. Der niederrheinische Pesttraktat „Regimen de epidemia“ von 1490. In: Konrad Goehl, Johannes Gottfried Mayer (Hrsg.): Editionen und Studien zur lateinischen und deutschen Fachprosa des Mittelalters. Festgabe für Gundolf Keil zum 65. Geburtstag. Königshausen & Neumann, Würzburg 2000 (= Texte und Wissen. Band 3), ISBN 3-8260-1851-6, S. 167–192, insbesondere S. 170.
  2. Adolf F. Dörler: Die Tierwelt in der sympathetischen Tiroler Volksmedizin. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 8, 1898, S. 38–48 und 168–180.
  3. Johannes Jühling: Die Tiere in der deutschen Volksmedizin alter und neuer Zeit nach den in der kgl. öffentlichen Bibliothek zu Dresden vorhandenen gedruckten und ungedruckten Quellen. Mit einem Anhange von Segen und einem Geleitworte von M. Höfler. Polytechnische Buchhandlung R. Schulze, Mittweida 1900, OCLC 6663973.
  4. Vgl. auch Max Baldinger: Aberglaube und Volksmedizin in der Zahnheilkunde. Basel 1936 (= Schweizerisches Archiv für Volkskunde. Band 25, 1936, Heft 1–2.)
  5. Ernst Julius Gurlt: Geschichte der Chirurgie und ihrer Ausübung. Volkschirurgie - Altertum - Mittelalter - Renaissance. 3 Bände, Berlin 1898; Neudruck Hildesheim 1964; Digitalisat: Band 1; Band 2; Band 3
  6. Anton Curic: Gesundheitslexikon A-Z. Eco, Eltville 1999, ISBN 3-933468-52-3, S. 70.
  7. Vgl. etwa William Marshall: Neueröffnetes, wundersames Arzenei-Kästlein, darin allerlei gründliche Nachrichten, wie es unsere Voreltern mit den Heilkräften der Thiere gehalten haben, zu finden sind. A. Twietmeyer, Leipzig 1894. Faksimilierte Ausgabe: F. Englisch, Wiesbaden 1981, ISBN 3-88140-091-5; vgl. auch Frischzellentherapie.
  8. Max Höfler: Die volksmedizinische Organotherapie und ihr Verhältnis zum Kultopfer. Stuttgart/Berlin/Leipzig 1908.
  9. Paul Diepgen, Heinz Goerke: Aschoff: Kurze Übersichtstabelle zur Geschichte der Medizin. 7., neubearbeitete Auflage. Springer, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1960, S. 13–14 (Die Heilkunde im germanisch-keltischen Altertum).
  10. Gundolf Keil: Heilkunde bei den Germanen. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der germanischen Altertumskunde. 2., völlig neu bearbeitete Auflage. Begründet von Heinrich Beck, Herbert Jankuhn, Hans Kuhn und Reinhard Wenskus. Redigiert von Rosemarie Müller, 35 Bände und 2 Registerbände, Berlin / New York (1968–)1973–2008, hier: Ergänzungs-Band 77: Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft: Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Berlin/Boston 2012, S. 317–388.
  11. Paul Diepgen, Heinz Goerke: Aschoff: Kurze Übersichtstabelle zur Geschichte der Medizin. 1960, S. 11 und 13–14.
  12. Max Höfler: Volksmedizin und Aberglaube in Oberbayerns Gegenwart und Vergangenheit. München 1893; Neudruck Walluf/Nendeln 1976.
  13. Gottfried Lammert: Volksmedizin und medizinischer Aberglaube in Bayern und den angrenzenden Bezirken, begründet auf die Geschichte der Medizin und Cultur. Julien, Würzburg 1869, OCLC 937180830.
  14. Heinrich Vorwahl: Deutsche Volksmedizin in Vergangenheit und Gegenwart. In: Studien zur religiösen Volkskunde, Abteilung B, Heft 9, Dresden / Leipzig 1939, S. 3–48; auch in: Volksmedizin: Probleme und Forschungsgeschichte. Hrsg. von Elfriede Grabner, Darmstadt 1967, S. 223–277.
  15. Vgl. Victor Fossel: Volksmedizin und Medicinischer Aberglaube in Steiermark. Graz 1886; Neudruck Wiesbaden 1974.
  16. Eberhard Wolff (2005), S. 1457.
  17. Bernard Ortiz de Montellano: Aztec sources of some Mexican folk medicine. In: Richard P. Steiner (Hrsg.): Folk medicine. The art and the sciences (American Chemical Society), Washington D.C. 1986, S. 1–22.