Wagnis des Lebens
Wagnis des Lebens ist der Titel eines Buches, das 2022 im Bremer Kellner Verlag erschienen ist. Der Untertitel lautet Eine biografische Suche nach den Spuren der NS-Zeit. Das Buch hat die Literaturwissenschaftlerin Helga Grubitzsch herausgegeben. Die Herausgeberin stellt in einem Vorwort die sieben Autorinnen und deren Intentionen vor.[1]
Projekt
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die an dem Projekt zur Biografiearbeit beteiligten acht Autorinnen hatten sich im Zentrum für Kreative Biografiearbeit zusammengefunden, das von Helga Grubitzsch geleitet wird. Zum gesamten Kreis der Autorinnen gehören:[2]
- Ingeburg Bertzbach (* 1942), Lehrerin für Welt- und Umweltkunde
- Christiane Goldenstedt (* 1955), promovierte Oberstudienrätin i. R.
- Helga Grubitzsch (1943), emeritierte Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Bremen und Universität Paderborn
- Michaela Hauser, Psychotherapeutin und Clown
- Brita Heitmann (* 1945), Lehrerin für Chemie
- Katja Reiche (* 1969), Designerin
- Angelika Tolle-Herlyn (* 1948), Lehrerin
- Gisela von Olshausen (* 1949), Lehrerin
In dem Buch sind biografische und autobiografische Texte, wissenschaftlichen Studien sowie Gedichte veröffentlicht, in denen die Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges, der Zeit des Nationalismus und des Zweiten Weltkrieges auf einzelne Generationen dargestellt werden.[3] Hieraus ergibt sich die Gliederung des Inhaltes in die Kapitel Großmütter, Väter, Kinder und Enkel. Ein zusätzliches Kapitel behandelt das Thema Emigration und Widerstand.[4]
Inhalte
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Katja Reiche blickt auf das Leben ihrer Großmutter Ella Reiche (1906–2008) und auf das Leben ihres Großvaters Richard Reiche. Die Großeltern hatten am 5. August 1943, wenige Tage nach den schweren Bombenangriffen auf Hamburg (Operation Gomorrha), geheiratet. Einen breiten Raum nehmen Recherchen zur Soldatenzeit ihres Großvaters im Zweiten Weltkrieg ein. Seit Januar 1945 ist der Soldat verschollen.[5]
Unter dem Titel Annäherungen beschreibt die Autorin Gisela von Olshausen die Entwicklungen ihres stets schweigsamen Vaters Siegfried K. (1915–1986). Einen Grund für das Schweigen kann die Autorin darin aufzeigen, dass ihr Vater während der NS-Zeit an Tuberkulose erkrankt war und folglich die damals typische Stigmatisierung erfahren musste.[6] In diesem Kontext zitiert die Autorin die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag und deren Essay Krankheit als Metapher.[7]
Mit der väterlichen Kaffeeplantage im tansanischen Mbozi beschäftigt sich die Autorin Angelika Tolle-Herlyn in ihrem Beitrag: Im November 1933 wanderte der dreiundzwanzigjährige Tropenlandwirt Jürgen Tolle in das englische Mandatsgebiet Tanganyika Territory aus, wo er mit Erfolg eine Kaffeeplantage aufbauen und betreiben konnte. Seine berufliche Existenz und die Lebensgrundlage der jungen Familie wurde am 1. September 1939, dem Tag des deutschen Überfalls auf Polen, vernichtet. Alle deutschen Männer kamen in ein englisches Internierungslager nach Dar es Salaam. Trotz vieler vergeblicher Bemühungen wurde die Familie Tolle Ende März 1940 in das nationalsozialistische Deutsche Reich ausgewiesen.[8]
Im Kapitel Kinder und Enkel spürt Brita Heitmann in der Form von Prosagedichten den tragischen Ereignissen in ihrer Familie nach.[9] Und Ingeburg Bertzbach wählt für ihre Analyse ebenfalls die Gedichtform, in der eigene biografische Erlebnisse mit Ereignissen aus der deutschen Zeitgeschichte verknüpft sind. Ein Gedicht hat den Titel Fischerhude – Ort meiner Kindheit und für Cato Bontjes van Beek.[10]
Michaela Hauser – eine Altersangabe wird nicht gemacht – zählt sich selbst zu den sogenannten Kriegsenkelkindern.[11] Von der Autorin stammen sechs Prosagedichte, die jeweils den einzelnen Generationen zugeordnet sind.[12]
In dem abschließenden Kapitel Emigration und Widerstand veröffentlicht Christiane Goldenstedt – sie wurde 2006 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg über das Thema Les femmes dans la Résistance promoviert[13] – zwei Studien: Die erste Studie trägt den Titel Letzte Zuflucht Palästina – Margarete Turnowsky-Pinner und Ernst Pinner.[14][15] In der zweiten Studie befasst sich Goldenstedt mit Hélène Viannay, die in Frankreich zu den Frauen in der Résistance gehörte. Nach dem Zweiten Weltkrieg gründete das Ehepaar Viannay im Jahr 1947 die Segelschule Les Glénans.[16]
Zitat
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]„Es ist Scham und es ist Enttäuschung, was diese Menschen nach dem Krieg verstummen lässt: Denn vor allem ist es Schweigen, was diese Menschen prägt.“
Bibliografie
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Helga Grubitzsch (Hrsg.): Wagnis des Lebens. Eine biografische Suche nach den Spuren der NS-Zeit. Kellner Verlag, Bremen 2022, ISBN 978-3-95651-331-2.[17]
- Florence Hervé: Helga Grubitzsch (Hrsg.): Wagnis des Lebens. Eine biografische Suche nach den Spuren der NS-Zeit. Kellner Verlag, Bremen 2022. In: Wir Frauen. Das feministische Blatt. 3/2022, S. 33. ISSN 0178-6083. (Rezension).
- Jan-Paul Koopmann: Helga Grubitzsch: "Ich glaube nicht so sehr an Fakten." Das Buch "Wagnis des Lebens" folgt Spuren der NS-Zeit in Biografien. In: TAZ. 25. April 2022. (taz.de)
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Aus den Briefen von Ernst Pinner an seine Schwester Margarete Turnowsky-Pinner in Palästina, 1933–1938. File 56, Leo Baeck Archiv Jerusalem.
- Brief an Mrs. F.D. Roosevelt, Vorsitzende der Kommission für Menschenrechte, 17. Dezember 1948.
- Martin Baer, Olaf Schröter: Eine Kopfjagd – Deutsche in Ostafrika. Ch. Links Verlag, Berlin 2001, ISBN 3-7632-5291-6.
- Sabine Bode: Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Mit einem Nachwort von Luise Reddemann. Cotta´sche Buchhandlung, Stuttgart 2004, ISBN 3-492-24403-3.
- Jutta Dick, Marina Sassenberg (Hrsg.): Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert. Lexikon zu Leben und Werk. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1999, ISBN 3-499-16344-6.
- Clarisse Feletin: Hélène Viannay. L'instinct de résistance de l'Occupation à l'école des Glénans. Vorwort von René Rémond. Pascal Verlag, Paris 2005, ISBN 2-35019-000-5.
- Uwe Fleckner (Hrsg.): Die Schatzkammer der Mnemosyne. Ein Lesebuch mit Texten zur Gedächtnistheorie von Platon bis Derrida. Mit einem Bildessay von Sarkis. Verlag der Kunst, Dresden 1995, ISBN 3-364-00358-0.
- Christiane Goldenstedt: Les femmes dans la Résistance. (= Frauen in Geschichte und Gesellschaft. Band 43). Centaurus Verlag, Herbolzheim 2006, ISBN 3-8255-0649-5.
- Sebastian Haffner: Historische Variationen. Zum Septemberkrieg von 1939. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2005, ISBN 3-423-34010-X.
- Siegfried Lehmann: Idee der jüdischen Siedlung und des Volksheimes, im Felde 1916. In: Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus 1882–1933. Leo Baeck Institute Jerusalem.
- Tamara Or: Vorkämpferinnen und Mütter des Zionismus. Die deutsch-zionistischen Frauenorganisationen (1897–1938). Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-631-59150-5.
- Oliver Schlaudt: Margarete Turnowsky-Pinner: Eine Studienfreundschaft mit Ernst Toller. In: Markus Bitterolf, Stefan Schöbel (Hrsg.): Intellektuelle in Heidelberg 1910–1933. Edition Schöbel, Heidelberg 2014, ISBN 978-3-9816366-2-8, S. 359–376.
- Dagmar Schneider: Juden in Lichtenrade. In: Geschichtswerkstatt Berlin-Lichtenrade (Hrsg.): Direkt vor der Haustür, Berlin-Lichtenrade im Nationalsozialismus. Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, Göttingen 1990, ISBN 3-89246-017-5, S. 167–217.
- Werner Voigt: 60 Jahre in Ost Afrika: Memoiren eines Siedlers. Verlag General Store Pub House, Ontario 1985, ISBN 1-896182-40-2.
- Olivier Wieviorka: Une certaine idée de la Résistance. Défense de la France 1940–1944. Editions Seuil, Paris 1995, ISBN 2-02-019377-9.
- Moshe Zimmermann: Die deutschen Juden 1914–1945. (= Enzyklopädie deutscher Geschichte. Bd. 43). R. Oldenbourg Verlag, München 1997, ISBN 3-486-55082-9.
Siehe auch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Zentrum für Kreative Biografiearbeit. Abgerufen am 8. Juli 2022.
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Helga Grubitzsch (Hrsg.): Wagnis des Lebens. Kellner Verlag, Bremen 2022, S. 4–11.
- ↑ Helga Grubitzsch (Hrsg.): Wagnis des Lebens. Kellner Verlag, Bremen 2022, S. 238–240.
- ↑ Helga Grubitzsch (Hrsg.): Wagnis des Lebens. Kellner Verlag, Bremen 2022, S. 9–11.
- ↑ Helga Grubitzsch (Hrsg.): Wagnis des Lebens. Kellner Verlag, Bremen 2022, S. 3.
- ↑ Katja Reiche: Der erweiterte Blick. In: Helga Grubitzsch (Hrsg.): Wagnis des Lebens. Kellner Verlag, Bremen 2022, S. 14–42.
- ↑ Gisela von Olshausen: Annäherungen. In: Helga Grubitzsch (Hrsg.): Wagnis des Lebens. Kellner Verlag, Bremen 2022, S. 50–108.
- ↑ Gisela von Olshausen: Annäherungen. In: Helga Grubitzsch (Hrsg.): Wagnis des Lebens. Kellner Verlag, Bremen 2022, S. 86–90.
- ↑ Angelika Tolle-Herlyn: Ein Kaffeepflanzer zwischen den Welten. In: Helga Grubitzsch (Hrsg.): Wagnis des Lebens. Kellner Verlag, Bremen 2022, S. 110–147.
- ↑ Brita Heitmann: Gedichte. In: Helga Grubitzsch (Hrsg.): Wagnis des Lebens. Kellner Verlag, Bremen 2022, S. 153–166.
- ↑ Ingeburg Bertzbach: Gedichte. In: Helga Grubitzsch (Hrsg.): Wagnis des Lebens. Kellner Verlag, Bremen 2022, S. 167–177.
- ↑ Helga Grubitzsch: Vorwort. In: (Hrsg.): Wagnis des Lebens. Kellner Verlag, Bremen 2022, S. 8.
- ↑ Helga Grubitzsch (Hrsg.): Wagnis des Lebens. Kellner Verlag, Bremen 2022, S. 3.
- ↑ Helga Grubitzsch (Hrsg.): Wagnis des Lebens. Kellner Verlag, Bremen 2022, S. 238.
- ↑ Aus den Briefen von Ernst Pinner an seine Schwester Margarete Turnowsky-Pinner in Palästina, 1933–1938. File 56, Leo Baeck Archiv Jerusalem.
- ↑ Christiane Goldenstedt: Letzte Zuflucht Palästina – Margarete Turnowsky-Pinner und Ernst Pinner. In: Helga Grubitzsch (Hrsg.): Wagnis des Lebens. Kellner Verlag, Bremen 2022, S. 185–218.
- ↑ Christiane Goldenstedt: Hélène Viannay (1917–2006): Widerstandskämpferin, Ehefrau und Mutter. In: Helga Grubitzsch (Hrsg.): Wagnis des Lebens. Kellner Verlag, Bremen 2022, S. 219–236.
- ↑ Matthias Holthaus: Das laute Schweigen. Rezension. In: Weser Kurier. 9. Juni 2022, S. 6. (Stadtteil-Kurier).