Westforschung
Als Westforschung wurde in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus die wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Beschäftigung mit der Geschichte und der Kultur im Osten und Nordosten Frankreichs, in der Schweiz, der Niederlande, Belgiens und Luxemburgs sowie in den westlichen Grenzgebieten des Deutschen Reiches bezeichnet.
Westforschung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Anfänge der Westforschung liegen vor dem Ende des Ersten Weltkriegs. Charakteristisch waren eine politische Motivation der Forschung sowie eine Tendenz zur Konzeptualisierung einzelner Regionen als einheitlichem deutschem „Grenzraum“, der vor allem im Nationalsozialismus auch als deutscher „Westraum“ oder „Westland“ bezeichnet wurde. Die Westforschung ging damit weit über die Revision der im Versailler Friedensvertrag festgelegten Grenzveränderungen im Westen des Deutschen Reiches hinaus. Die Westforschung fand vor dem Hintergrund der Volks- und Kulturbodenforschung einerseits und der Politisierung wissenschaftlichen Handelns im Zuge der jungkonservativen Radikalisierung des völkischen Nationalismus andererseits statt. Sie war ein Pendant zur Ostforschung, mit der sie konzeptionell, methodisch, institutionell und personell eng verflochten war. Neben geschichts- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen umfasste sie geographische, raumplanerische, archäologische, volkskundliche, wirtschaftswissenschaftliche und ingenieurwissenschaftliche Komponenten. Sie bezog kollaborierende Wissenschaftler, Experten und politische Akteure aus den westlichen Nachbarstaaten aktiv ein. Neben einer wissenschaftlichen Legitimation für eine „Neuordnung“ der westlichen Nachbarstaaten erschloss sie besatzungspolitisch relevantes Wissen; zahlreiche Akteure der Westforschung wirkten daher an besatzungspolitischen Maßnahmen und Programmen mit. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges blieben Ansätze und Fragestellungen der Westforschung zunächst wirksam, wenngleich der Kontext der deutschen Expansion einem Kontext der europäischen Integration wich. Einzelne Wissenschaftler, die diese Strömung repräsentierten, hatten noch bis 1960 Einfluss. Zu diesen gehörten unter anderem die Historiker Franz Petri und Franz Steinbach.
Der belgische Romanist Maurice Wilmotte hatte bereits am 19. Oktober 1939 in der Brüsseler Tageszeitung Le Soir einen Artikel veröffentlicht, in dem er der deutschen „Landnahmeforschung“, also der Westforschung, vorwarf, eine militärisch-politische Eroberung Belgiens ideologisch vorzubereiten.[1] Der Begründung für territoriale Ansprüche, die sich aus dieser Landnahmeforschung ergaben, erteilte auch der deutsche Romanist Harri Meier eine Absage: Er bezweifelte die Aussagekraft von etymologisierten Eigen- und Ortsnamen, die den Norden Frankreichs bis zur Loire für altes germanisches Siedlungsland erklären sollten. Die Vereinnahmung der Sprachwissenschaft durch die Politik lehnte er ab.[2]
Westdeutsche Forschungsgemeinschaft
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die tragende Institution der Westforschung war die schon während der Weimarer Republik gegründete Westdeutsche Forschungsgemeinschaft (WFG), eine Teilorganisation der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften (VFG). Diese stützte sich vor allem auf drei regionale Institute, die jeweils auf einen Abschnitt des „Grenzraumes“ spezialisiert waren: das 1920 gegründete Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande an der Universität Bonn, das 1921 gegründete Wissenschaftliche Institut der Elsass-Lothringer im Reich der Universität Frankfurt[3] und das 1931 gegründete Alemannische Institut in Freiburg. Zahlreiche weitere Institute sowie regionale Vereine und historische Kommissionen waren in die Struktur der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft integriert. Darüber hinaus wurde die wissenschaftliche Flankierung der Saarabstimmung von der 1926 gegründeten Saarforschungsgemeinschaft wahrgenommen. Während des Nationalsozialismus sind in der Vorbereitungsphase des Zweiten Weltkrieges eine Reihe weiterer Forschungsinitiativen und -programme nachweisbar, deren Verhältnis zur WFG teils durch Kooperation, teils durch Konkurrenz bestimmt war.
Wie die übrigen Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften, war die WFG in die Legitimierung der Besatzungspolitik in Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg einbezogen. Hierzu zählte auch die Bereitstellung von Expertisen für eine territoriale „Neuordnung“, eine Neuziehung der deutschen Westgrenze sowie die Bevölkerungspolitik einschließlich einer vorgesehenen zwangsweisen Germanisierung der frankophonen nordost- und ostfranzösischen Gebiete. Die Hauptakteure der Westforschung forcierten die Zusammenarbeit mit Kollaborateuren, schöpften das Fachwissen relevanter Disziplinen und Institute ab, besetzten Gastprofessuren oder waren an dem Raub kultureller, wirtschaftlicher oder archivalischer Güter beteiligt. Ein organisatorisches Projekt von hoher Bedeutung war in diesem Kontext 1941 die Gründung der Reichsuniversität Straßburg, deren wissenschaftliche Personalpolitik Ernst Anrich bestimmte.
Wichtige frühe Vertreter der zunächst „jungkonservativ“ geprägten Westforschung waren Max Hildebert Boehm und Martin Spahn. Wirkungsmächtige geschichts- und kulturwissenschaftliche Vertreter der Westforschung waren u. a. Friedrich Metz, Franz Steinbach, Franz Petri, Hermann Aubin und Emil Meynen. Innerhalb der Wirtschaftswissenschaften und Wirtschaftsgeographie spielten Bruno Kuske und Walter Geisler eine wichtige Rolle.
Siehe auch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Abteilung für Rheinische Landesgeschichte des Instituts für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn, Protagonisten der NS-Unterwanderung bzw. ihrer Vorläufer: Hermann Aubin, Franz Steinbach, Franz Petri u. a.) bis 1945
- Aktion Ritterbusch zum politischen Zusammenhang der Westforschung
- Heinrich Haake, ein Praktiker der „Westforschung“, Leiter einer „Abteilung G“ (für Grenzland) der NSDAP
- Theodor Mayer, u. a. Westforscher, auch als Vorsitzender der WFG
- Grenzlanddeutschtum
- Hochschularbeitsgemeinschaften für Raumforschung
- Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft (NOFG)
- Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft (SOFG)
- Reichsstelle für Raumordnung
- Westmark (Pfalz, Saarland, Lothringen)
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Westland. Blätter für Landschaft, Geschichte und Kultur an Rhein, Mosel, Maas und Schelde. Hg. (bis Ende 1944) Arthur Seyss-Inquart. Verlag Volk und Reich, Geschäftsführer Friedrich Heiß. Verlagsort Amsterdam, weitere: Berlin, Prag, Wien (dieser Ort nur fiktiv). Populärwissenschaftlich.[4]
- Burkhard Dietz, Helmut Gabel, Ulrich Tiedau (Hgg.): Griff nach dem Westen. Die „Westforschung“ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum 1919–1960. 2 Bde., Waxmann, Münster 2003, ISBN 978-3-8309-1144-9[5]
- Rezension in: H-Soz-u-Kult, 15. Mai 2003 (online,) von Hans Derks[6]
- darin: Bernd-A. Rusinek: "Westforschungstraditionen" nach 1945. Ein Versuch über Kontinuität. Bd. 2, S. 1141–1201 Volltext
- Vera Ziegeldorf: Westforschung. Eine Diskussion zur völkisch-nationalistischen Historiographie in Deutschland. Tagungsbericht. In H-Soz-u-Kult, 12. Mai 2003. online[7]
- Hans Derks: Deutsche Westforschung. Ideologie und Praxis im 20. Jahrhundert. Akademische Verlagsanstalt, Leipzig 2001, ISBN 3-931982-23-8.
- Patricia Oster & Hans-Jürgen Lüsebrink Hgg: Am Wendepunkt. Deutschland und Frankreich um 1945. Zur Dynamik eines 'transnationalen' kulturellen Feldes / Dynamiques d'un champ culturel 'transnational' – L'Allemagne et la France vers 1945. Transcript, Bielefeld 2008, ISBN 978-3-89942-668-7. (Reihe: Frankreich-Forum. Jahrbuch des Frankreichzentrums, o. Nr.)
- Thomas Müller: Imaginierter Westen. Das Konzept des „deutschen Westraums“ im völkischen Diskurs zwischen Politischer Romantik und Nationalsozialismus. Transcript, Bielefeld 2009, ISBN 978-3-8376-1112-0
- Thomas Müller: Grundzüge der Westforschung. In: Michael Fahlbusch; Ingo Haar (Hrsg.), Völkische Wissenschaften und Politikberatung im 20. Jahrhundert. Expertise und "Neuordnung" Europas, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2010, S. 87–118 (online Zugriff)
- Peter Schöttler: Von der rheinischen Landesgeschichte zur nazistischen Volksgeschichte, oder "Die unüberhörbare Stimme des Blutes", in Winfried Schulze, Otto Gerhard Oexle: Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. Frankfurt 1999 u.ö. ISBN 978-3-596-14606-2, S. 89–113
- Bernard Thomas: Le Luxembourg dans la ligne de mire de la Westforschung. Luxemburg 2011
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Andreas Faludi: Eine weiße Weste? Die niederländische Nationalplanung unter deutscher Besatzung, aus: Vom Dritten Reich zur Bundesrepublik. Beiträge einer Tagung zur Geschichte von Raumforschung und Raumplanung, 12. – 13. Juni 2008 in Leipzig. Hg.: Akademie für Raumforschung und Landesplanung. Selbstverlag, Hannover 2009, ISBN 978-3-88838-346-5 Literatur S. 241–253
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Frank-Rutger Hausmann (PDF; 10,7 MB), S. 92. Auch als Print
- ↑ Frank-Rutger Hausmann, Vom Strudel der Ereignisse verschlungen. Deutsche Romanistik im „Dritten Reich“. Frankfurt/M. 2008, S. 712
- ↑ Siehe Wissenschaftliches Institut der Elsass-Lothringer im Reich (online).
- ↑ Verlag hat viele NS-Bücher über Westforschung herausgebracht, darunter eine 10-teilige Reihe über die sog. Wirtschaftsgeographie des deutschen Westens, Redaktion Walter Geisler und Georg Scherdin. In Berlin und Amsterdam erschien bei Volk und Reich ein Sammelband von Friedrich Heiß, Günter Lohse und Waldemar Wucher über „Deutschland und der Westraum“. Wucher leitete nach dem Ende seiner Karriereträume als NS-Historiker eine Evangelische Akademie in Thüringen. Inhalt des Sammelbands siehe Artikel zu „Westraum“.
- ↑ online teilw. lesbar; durchsuchbar
- ↑ eine sehr deutliche Kritik an Aspekten des Sammelbands
- ↑ dies ist die Startseite zu einer Reihe von Rezensionen, wie z. B. die angeführte von Derks; entsprechende Verlinkungen beachten