Wirklichkeitswissenschaft
Wirklichkeitswissenschaft (auch Wissenschaft von der Wirklichkeit bzw. Wissenschaft vom Wirklichen) wird in der erkenntnistheoretischen Diskussion eine Wissenschaft genannt, die sich mit der konkreten, kausal zusammenhängenden Wirklichkeit, sogenanntem Erfahrungswissen auseinandersetzt und nicht mit wertfrei-generalisierender und abstrakt orientierter, reiner Theorie (oder auch Spekulation).
Der Begriff wurde im Gefolge von Wilhelm Dilthey vor allem von Georg Simmel (1892 in Probleme der Geschichtsphilosophie), Wilhelm Windelband (1894 in der Straßburger Rektoratsrede Geschichte und Naturwissenschaft), Ernst Troeltsch (1897 in Voraussetzungslose Wissenschaft), Heinrich Rickert (1902 in Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung) und Max Weber[1] (1904 in Die 'Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis[2]), eingeführt und geprägt, später aber vor allem auch bekannt gemacht durch Hans Freyer, der die Soziologie, und durch Hermann Heller, der die Staatslehre als Wirklichkeitswissenschaft vorstellte. Sie seien die höchsten und letzten Formen der zur Wirklichkeitswissenschaft geworden sowohl Natur- als auch Geisteswissenschaften.
Während von diesen Erkenntnistheoretikern zu den Wirklichkeitswissenschaften alle Kulturwissenschaften gezählt werden, inklusive der Geschichtswissenschaft, stehen ihnen die Geisteswissenschaften gegenüber, zu denen neben der Mathematik auch die Naturwissenschaften zählen.
In diesem Zusammenhang ist die Diskussion, ob nun Theologie und Philosophie als Kultur- und damit Wirklichkeitswissenschaften zu fassen sind oder aber als Geisteswissenschaften, zwar offen, bleibt jedoch bezogen auf Erkenntnisinteressen (Lehre, Leitwissenschaft, Einheitswissenschaft, Grundlagenforschung).
Pragmatisch einflussreich ist der Aufbau der Universitätsfakultäten; beispielsweise wurde die Philosophische Fakultät an der Universität Wien 1975 in die drei Fakultäten für Grund- und Integrativwissenschaften, für Geisteswissenschaften sowie für Formal- und Naturwissenschaften gegliedert. Später kam es erneut zu Umstrukturierungen.[3]
Im deutsch-englischen Wörterbuch philosophischer Fachbegriffe (2. Auflage) von Elmar Waibl und Philip Martin Herdina findet sich keine englische Übersetzung für den Begriff „Wirklichkeitswissenschaft“; thematisch verwandt ist (über Realwissenschaft) empirical science / empirische Wissenschaft. Hans-Jörg Sigwart übersetzt (Bezug auf William-James-Rezeption) „science of reality or experience“.[4]
Aus philosophisch-kontemplativer Perspektive stellt sich weiters die Frage nach dem Zusammenhang von Wissenschaftstheorie[5] (Programme, Modelle) und Wissenschaftsgeschichte (Theoriendynamik). Im Wörterbuch phänomenologischer Begriffe[6] (2004) werden diesbzgl. Positionen Martin Heideggers (Besinnung) und Hannah Arendts (vita activa) kontrastiert.
„Cicero verwendet ‚contemplari‘ als Übersetzung für das griech. theorein.“[7]
Das Philosophielexikon von Anton Hügli und Poul Lübcke unterscheidet im Artikel das Absolute ontologische von erkenntnistheoretischen und ethischen Bedeutungen; die Suche nach dem Grundlegenden gehe in zwei Richtungen: „Zum einen wird nach den allgemeinen Zügen dessen, was ist, gefragt, d. h. nach den elementaren Bestimmungen, die Seiendes als Seiendes auszeichnen (Ontologie); zum anderen geht die Suche nach einem höchsten Seienden, einem höchsten Wesen, von dem her das Seiende als Ganzes (die Welt) sich bestimmen lässt, das ein letztes, abschließendes und zugleich einheitsstiftendes Prinzip ist (Theologie, vgl. auch Ontotheologie). Wer den Begriff des Absoluten verwendet, spricht der Wirklichkeit einen Sinnzusammenhang zu.“[8]
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Michael Bock: Kriminologie als Wirklichkeitswissenschaft. Berlin 1984.
- Hans Freyer: Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Leipzig, Berlin 1930, Neuauflage Stuttgart 1964.
- Volker Kruse: „Geschichts- und Sozialphilosophie“ oder „Wirklichkeitswissenschaft“? die deutsche historische Soziologie und die logischen Kategorien René Königs und Max Webers. Frankfurt am Main 1999.
- Georg Pfleiderer: Theologie als Wirklichkeitswissenschaft. Tübingen 1992.
- Ulrich Sieg: Psychologie als „Wirklichkeitswissenschaft“. Erich Jaenschs Auseinandersetzung mit der „Marburger Schule“. In: Winfried Speitkamp (Hrsg.), Staat, Gesellschaft, Wissenschaft. Beiträge zur modernen hessischen Geschichte, Marburg 1994 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, 55), S. 313–342.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft
Quellen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ "Wissenschaft mit individualisierendem Erkenntnisinteresse"
- ↑ Dann in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre.
- ↑ Thomas Maisel, Ulrike Denk: Die Entwicklung der Fakultäten an der Universität Wien. Stand: 2021. In: 650 plus. 3. Mai 2014 (univie.ac.at [abgerufen am 1. Februar 2023]).
- ↑ Wirklichkeitswissenschaft und Ordnungswissenschaft: Eric Voegelins Auseinandersetzung mit Max Weber, in: Zeitschrift für Politik 54 (4), 2007, S. 379–407, Summary S. 407.
- ↑ Wissenschaftstheorie. Abgerufen am 7. April 2023.
- ↑ Andreas Grossmann: Artikel Kontemplation. In: Wörterbuch phänomenologischer Begriffe, hg. unter Mitarbeit v. Klaus Ebner und Ulrike Kadi von Hellmuth Vetter, Hamburg: Meiner Verlag, Nachdruck 2020, S. 315–16 ISBN 978-3-7873-3913-6.
- ↑ Kontemplation. Abgerufen am 11. Mai 2023.
- ↑ Erweiterte und vollständig revidierte 3. Auflage unter Einbezug von Poul Lübckes Politikens Filosofileksikon (dän.) und unter Mitarbeit von Said Bafandi. Rowohlt: Reinbek 2013, ISBN 978-3-499-55689-0.