Benutzer:Magiers/Wer hat Angst vorm Hauptautor?
Eine Angst geht um in der Wikipedia: der große böse Hauptautor macht sich auf, das Wiki-Prinzip mitsamt dem gehegten und gepflegten Vorschriftendschungel zu fressen und seine Artikel einfach so zu schreiben, wie es ihm gefällt. Darf das denn sein? Darf es den großen bösen Hauptautor unter den braven kleinen Wikifanten denn überhaupt geben? Darf der einfach so von „seinen“ Artikeln sprechen, nur weil er sie geschrieben hat? Soll man sich nicht aufmachen, den großen bösen Hauptautor zu jagen und zu erlegen, damit endlich wieder Ruhe und Bürokratie im Vorschriftendschungel herrscht? Eine kleine polemische Streitschrift.
Die Ideologie des Wiki-Prinzips
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die einfache und direkte Zugänglichkeit der Wiki-Software lässt in der Wikipedia das so genannte Wiki-Prinzip entstehen: ein kollaboratives Schreiben mehrerer Autoren am selben Artikel. Zweifellos wird die konstruktive Zusammenarbeit in einer flachen Hierarchie die Qualität des Ergebnisses steigern. Allerdings ist beileibe nicht jede Zusammenarbeit in der Wikipedia konstruktiv. Durch destruktives Gegeneinander mehrerer Autoren entsteht bestenfalls ein Patt im Artikel, bei dem sich die gegenläufigen Interessen paralysieren, vergleichbar mit dem Gleichgewicht des Schreckens im Kalten Krieg. Schlechtestenfalls führt sie sie zu einer Abwärtsspirale hin zum kleinsten gemeinsamen Nenner und zu einer Verhinderung jeder konstruktiven Weiterentwicklung eines Artikels.
Problematisch wird es, wenn das Wiki-Prinzip ideologisch aufgeladen wird. Es kommt dann zu Schlagworten wie Die Weisheit der Vielen oder Jeder kann mitmachen. Tatsächlich führt die freie Software zwar dazu, dass jeder ohne Anmeldung mitmachen darf. Dass er freilich in der Lage ist, an einer Enzyklopädie mitzuschreiben, also mitmachen kann, muss er erst einmal beweisen. Die durch die Wiki-Software vorgespiegelte Gleichheit des Zugangs ist nur eine theoretische. Bei jeder praktischen Arbeit kommt es auf ein Bündel von Vorwissen, Fachkenntnissen, sozialen Fähigkeiten etc. an, die eben nicht gleich unter allen Beitragenden verteilt sind. Insofern wird sich in jeder praktischen Arbeit eine Ungleichheit beweisen, sie wird von den Beteiligten verstanden und gelebt werden müssen, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Der Wiki-Kommunismus der absoluten Gleichheit aller Wikipedianer ist dieselbe realitätsferne Utopie wie sein historisches Vorbild.
Die Realität des Hauptautoren-Prinzips
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In der Praxis, auch wenn das auszusprechen häufig tabuisiert wird, hat sich in vielen Artikeln ein Hauptautorenprinzip herausgebildet. Einer oder mehrere Hauptautoren nehmen die Arbeit auf sich, die umfangreiche Fachliteratur zu einem Thema zu sichten und extrahieren daraus einen enzyklopädischen Artikel. Sie bestimmen ganz selbstverständlich die Auswahl der verwendeten Literatur, die häufig von trivialen Faktoren abhängig ist, etwa welches Buch man besitzt, welches in der nächstgelegenen Bibliothek verfügbar oder online einsehbar ist. Sie bestimmen ebenso die Gewichtung des Artikels im ständigen Widerstreit zwischen fachlicher Tiefe und der gebotenen enzyklopädischen Knappheit. Und natürlich bestimmen sie implizit beim Schreiben eines Artikels auch dessen Stil und Struktur, Typografie und Erscheinungsbild. Sie profitieren dabei von der Zuarbeit vieler anderer Mitautoren, die sie korrigieren, die Details beisteuern oder darauf achten, dass der Artikel bei aller fachlichen Komplexität den Laientest besteht. Solche Mitarbeit macht sie zu wertvollen Mitgestaltern des endgültigen Artikels, nicht jedoch zu gleichrangigen Mitautoren.
Selbstverständlich besitzen die Hauptautoren nicht das Eigentum am Artikel. Ebenso selbstverständlich besitzt aber auch kein sonstiger Beiträger das Eigentum am von ihm nicht geschriebenen Artikel. Der Anstand gebietet es, auf die Arbeit, die sich ein anderer gemacht hat, Rücksicht zu nehmen, wesentliche Änderungen vorab zu diskutieren und keine reinen Geschmacksänderungen gegen den Hauptbeiträger durchzusetzen. Der gesunde Menschenverstand gebietet es zudem, jemanden, der substantielle inhaltliche Arbeit leistet, nicht in formalistische Nebenkriegsschauplätze zu verwickeln und ihm dadurch die Zeit für weitere Artikel sowie auf Dauer die Lust an der Mitarbeit im Allgemeinen zu rauben. Da man Anstand und gesunden Menschenverstand aber in der Wikipedia nicht immer voraussetzen kann, gebieten das auch unsere Hinweise an Korrektoren und der Qualitätsanspruch einer Enzyklopädie: eine Änderung eines Artikels hat diesen zweifelsfrei zu verbessern, wenn diese Verbesserung Ansichtssache ist, muss sie diskutiert werden, wenn man sich mit ihr nicht durchsetzen kann, hat sie zu unterbleiben.
Den Wert, den ein Hauptautor für einen Artikel besitzt, kann man an vielen exzellenten oder lesenswerten Artikeln sehen, die fast immer durch die Arbeit eines oder mehrerer Hauptautoren entstanden sind, und die Vorbildcharakter für unseren gesamten Artikelbestand haben sollten. Man kann diesen Wert ebenso den viel zu zahlreichen Artikeln entnehmen, die entstanden sind, ohne dass zu irgendeinem Zeitpunkt jemand die Verantwortung für das Gesamtwerk übernommen hätte, und die nur aus einem Sammelsurium von willkürlich eingekippten Informationsbruchstücken bestehen. Könnte man etwa annehmen, dass es für einen Ortsartikel doch ganz ausreichend sein müsste, wenn ein paar Ortansässige ihr Wissen zusammentragen, beweist z.B. ein Artikel wie Wohlen AG, was ein Hauptautor aus einem – mit Verlaub – unbedeutendem Schweizer Kaff alles herausholen kann. Und auch ein Artikel wie Nordsee ist nicht dadurch lesenswert geworden, dass andere dem ersten Satz „Die Nordsee ist ein Mehr, ein teil der Atlant, zwischen Grossbritannien, Skandinavien, und Friesland.“ weitere gleichartige Sätze an die Seite gestellt hätten, sondern indem ein einzelner Hauptautor den überwiegenden Teil des Artikels völlig neu geschrieben hat.
Platzhirsch vs. Platzhirsch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Immer wieder wird die Furcht geäußert, die Anerkennung eines Hauptautors würde diesem unzulässige Privilegien verschaffen. Sie könnte ihn dazu verleiten, sich wie ein Platzhirsch zu benehmen und andere Autoren wegzubeißen. Tatsächlich ist es so, dass das Schreiben eines Artikels wegen aller Freiheiten der inhaltlichen Gestaltung, die damit verbunden sind, ein Privileg ist. An dieser Tatsache ändert sich jedoch nichts, wenn man das Privileg einfach verleugnet und die Augen vor der gewaltigen Einflussmöglichkeit von Hauptautoren verschließt. Das eigentliche Problem ist vielmehr, dass die Anerkennung des Sonderstatus als Artikelautor am Status derjenigen kratzt, die nicht nur über diesen Artikel bestimmen wollen (der sie meistens gar nicht sonderlich interessiert), sondern über die gesamte Wikipedia, am Status der eigentlichen Platzhirsche im Projekt also.
Denn die flache Hierarchie im Projekt existiert nur auf dem Papier: in Wahrheit wird die Wikipedia von einer vielschichtigen Hierarchie von Administratoren, Sichtern, Eingangskontrolleuren, Qualitätssicherern, von Redaktionen, Projekten, Stammtischen und Seilschaften Bekanntschaften regiert. Und wer sich einmal in diesen Hierarchien nach oben gekämpft hat, möchte nicht bei jedem einzelnen Artikel auf eine Gegenhierarchie von Fachleuten und Artikelautoren treffen, sondern als Projekt-Platzhirsch gegenüber einem bloßen Artikel-Autor grundsätzlich recht haben. Wer noch keine wesentliche Hierarchiestufe erreicht hat, lebt hingegen allzuoft sein Ressentiment aus. Gerade der Artikelautor, der jenseits vom Stolz auf seine geleistete Arbeit keine projektweiten Sonderrechte genießt, ist ein dankbares Opfer für verbitterte Zurechtweisungen: Nur weil jemand etwas kann, was ich nicht kann, soll er es noch lange nicht dürfen.
Eine Grundmotivation zur Mitarbeit in diesem Projekt ist auch der Schmuck mit fremden Federn. Man ist Teil eines Projektes, dessen Ansehen den Wert der eigenen Mitarbeit weit übersteigt. Und dieses Ansehen möchte man nicht dadurch relativiert sehen, dass die Leistung der einzelnen Beiträger zu offensichtlich (jenseits unverständlicher Versionsgeschichten) zutage tritt. So repräsentiert der Artikel des Tages eben nicht nur die Leistung seiner Autoren, sondern jeden einzelnen Mitarbeiter, der sich als Teil der Wikipedia fühlt. Ein „mein Artikel“ (nicht als Besitzanspruch, sondern als Herkunftsbezeichnung) ist da natürlich nicht gerne gesehen. Zur Meisterschaft haben diesen Schmuck mit fremden Federn die Wikimedia Foundation und ihre lokalen Vereine getrieben. Dort vertritt man nicht nur „die Wikipedia“ nach außen, sondern lebt ganz existenziell von der Rosstäuschung, dass Spender vermeintlich für „die Wikipedia“ und ihre Artikel spenden. Natürlich ist „die Wikimedia“ besonders daran interessiert, die tatsächliche Autorschaft von Wikipedia-Artikeln zu verschleiern. Und natürlich tut die von ihr weiterentwickelte Software so wenig wie möglich dafür, dem Leser diese Autorschaft transparent zu machen.
Fazit
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Bei der Diskussion um Hauptautoren und ihre Sonderrechte geht es nicht um die blanke Selbstverständlichkeit, jemanden als das zu bezeichnen, was er ist, nämlich den hauptsächlichen Verfasser eines Artikels als dessen Hauptautor. Es geht auch nicht um die Artikel (die überwiegend durch einzelne Autoren entstehen) oder die Leser (die ein natürliches Informationsbedürfnis nach dem Artikelverfasser haben). Es geht vorrangig um Macht im Projekt, um Kontrolle und die Angst vor Kontrollverlust, das Rütteln an Hierarchien, das Infragestellen von sachfremden Regeln und Abstimmungsmehrheiten. Und es geht nicht zuletzt um die Außendarstellung der Wikipedia, die sich nicht länger als ein namenloser Haufen darstellen lassen sollte, aus dem in einem zufällig ablaufenden Prozess Artikel entstehen, eine Schwarmintelligenz, deren Bestandteilen man jede Individualität und Eigenständigkeit absprechen kann. Die Wikipedia ist ein Projekt von einzelnen, unterschiedlichen Autoren, die auf ihre ganz eigene Art Artikel schreiben und für das Ergebnis auch Verantwortung tragen. Kollaborative Zusammenarbeit, das vielbeschworene Wiki-Prinzip, kann auf Dauer nur auf einer Grundlage funktionieren: Respekt für die Arbeit des anderen. Wo diese vorhanden ist, kann sie auch dokumentiert werden: durch eine Darstellung der Hauptautoren eines Artikels ebenso wie durch deren Übernahme einer besonderen Verantwortung für ihre Arbeit.
Addendum
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Zur Bestätigung dieser Streitschrift und der grassierenden Angst vor Autoren wurde der Begriff „Hauptautor“ von einem erheblichen Teil der Meta-Wikipedianer zu einem „Unwort“ gekürt und erreichte Rang 3 bei der Wahl zum Unwort des Jahres 2014. Nachdem bereits der Begriff „Premiumautor“ von der Abstimmungsmehrheit zum Unwort des Jahres 2013 gewählt worden ist, schlägt der Autor dieser Seite vor, beim Unwort des Jahres 2015 direkt den Begriff „Autor“ zu wählen. Ist erstmal klargestellt, wie schädlich ein solcher Begriff (bzw. ein Autor überhaupt) in der Wikipedia wirkt, bietet sich an, in einem Folgeschritt alle offen zu ihrer Autorschaft stehenden Autoren zur „Unperson“ zu erklären.
Und weil der Begriff „Hauptautor“ durch keinerlei Meinungsbild legitimiert ist (wie übrigens der Begriff „Wikipedia“ auch nicht) hat die Seite Wikipedia:Hauptautoren einen Löschantrag erhalten, der von persönlichen Angriffen gegen alle, die so dumm sind, in diesem Projekt noch Artikelarbeit zu leisten, nur so strotzt.