Codex Euricianus

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Codex Euricianus ist eine seit etwa 1900 gebräuchliche Bezeichnung für eine spätantike, von dem Westgotenkönig Eurich veranlasste Aufzeichnung des westgotischen Rechts in lateinischer Sprache. Rechtsgeschichtliche Bedeutung hat der Kodex, weil er als nachklassische Erkenntnisquelle für das west- wie oströmische Vulgarrecht in der Zeit des Herrschaftsverlustes der Römer über den Westen herangezogen werden kann.

Um 475/76 ließ Eurich das Recht der Westgoten aufzeichnen. Die Initiative folgte zeitlich wohl dem Friedensschluss mit Kaiser Nepos im gleichen Jahr. Andererseits ging sie dem Brief des Sidonius Apollinaris (476/77) an Leo von Narbonne voraus, denn unter Leo sind die gesetzlichen Arbeiten wohl abschließend redigiert worden.

Von diesem Werk sind nur Fragmente in einer Palimpsest-Handschrift der Pariser Nationalbibliothek (Codex Parisinus Latinus 12161) erhalten; nur ein Teil davon ist noch lesbar. Der Codex Euricianus war jahrhundertelang gänzlich verschollen; erst im 18. Jahrhundert wurden Fragmente entdeckt. Möglicherweise handelt es sich bei den Pariser Fragmenten um eine erst von Eurichs Sohn und Nachfolger Alarich II. veranlasste Bearbeitung des westgotischen Gesetzbuchs. Teile des Codex Euricianus lassen sich hypothetisch aus der späteren westgotischen Gesetzgebung erschließen, doch sind die Rekonstruktionsversuche mit erheblicher Unsicherheit belastet.

Der Codex Euricianus enthält unter anderem Vorschriften zur Regelung von Grenzstreitigkeiten und besonders von Fragen, die sich aus der Landteilung zwischen den sesshaft gewordenen gotischen Eroberern und den romanischen Grundbesitzern ergaben. Enthalten sind auch Regelungen zu klassischen zivilrechtlichen Materien, wie Leihe, Kauf und Schenkung, daneben Ehe- und Erbrecht. Der Kodex wird in der Forschung als wegweisende gesetzgeberische Leistung germanischer Kodifikationsbestrebungen gewürdigt. Tatsächlich ist das Werk in gutem Latein geschrieben, weshalb davon ausgegangen wird, dass an seiner Abfassung romanische Juristen maßgeblichen Anteil hatten.

Strittig ist, welche Rechtsvorstellungen das Werk dominieren, römische oder germanische. Unstrittig aber ist, dass das römische Recht einen hohen Anteil am gesamten Rechtsstoff einnimmt. Das mag für ein germanisches Rechtsbuch ungewöhnlich anmuten, zumal es bei Rechtsstreitigkeiten der Goten untereinander angewendet wurde. Vornehmlich stammen die Rechtssätze zwar aus der klassischen Zeit, da diese an der an der Wende vom 3. zum 4. Jahrhundert allerdings zunehmend vulgarisiert worden waren und in sehr vereinfachten Kurzfassungen im Verkehr waren, beschränkte sich der Anschauungsunterricht auf Wiedergaben der Qualität der Paulussentenzen. Daneben waren allerdings Exzerpte römischen Kaiserrechts greifbar.[1] Somit ist der Kodex auch ein Beleg für die fortgeschrittene Romanisierung der Westgoten.[2]

Teile des Codex Euricianus finden sich später, vermutlich als Basis, im Lex Baiuvariorum, die erste bairische Gesetzeskodifikation. Auch andere germanische Rechtskodifikationen, so die der Burgunder (lex Romana Burgundionum) beziehungsweise Franken und Alamannen (lex Alamannorum), gelten als durch den Codex Euricianus beeinflusst.[3]

Rechtsgeschichtliche Kontroverse

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Die Frage nach der territorialen[A 1] oder personellen[A 2] Gültigkeit des Codex Euricianus ist auch in der aktuellen Forschung weiterhin strittig.[4] Eine gleichzeitige Gültigkeit des Codex Euricianus und des Codex Theodosianus, ersetzt durch die durch Alarich II. erlassene und als bedeutendste der germanischen Kodifikationen rezipierte Lex Romana Visigothorum von 506, gilt hierbei jedoch als gesichert.[1]

  • Eugen Wohlhaupter (ed. und Übersetzung): Gesetze der Westgoten. In: Germanenrechte. Band 11. Weimar 1936 PDF

Einzelnachweise

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  1. a b Jan Dirk Harke: Römisches Recht. Von der klassischen Zeit bis zu den modernen Kodifikationen. Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-57405-4 (Grundrisse des Rechts), § 1 Rnr. 26.
  2. Vgl. im Zusammenhang, Karl von Amira: Germanisches Recht. Band 1: Rechtsdenkmäler. In: Grundriss der germanischen Philologie. De Gruyter, Berlin 1960. S. 23 ff.
  3. Herbert Hausmaninger, Walter Selb: Römisches Privatrecht. Böhlau, Wien 1981 (9. Aufl. 2001), ISBN 3-205-07171-9, S. 50.
  4. Manuel Koch: Ethnische Identität im Entstehungsprozess des spanischen Westgotenreiches, in: RGA. Berlin 2012.
  1. P. D. King, Law and Society in the Visigothic Kingdom. S. 13
    Liebs, Lex Romana Visigothorum. S. 325
    Siems, Lex Romana Visigothorum. Spanien 1941
  2. Alfonso García-Gallo, Nacionalidad y territorialidad del Derecho en la época visigoda. In: AHDE 13 (1936-41) S. 168–264
    Manuel Koch, Ethnische Identität im Entstehungsprozess des spanischen Westgotenreiches. S. 108–111
    Alvaro D’Ors, La territorialidad del derecho de los Visigodos. In: I Goti in occidente S. 363–408