Die Fraktionale Infinitesimalrechnung bezeichnet die Erweiterung des Ableitungsbegriffs auf nichtganzzahlige Ordnungen. Der Begriff „fraktional“ ist dabei historisch bedingt, die Ableitungen können ganz allgemein von reeller oder sogar komplexer Ordnung sein.
Diese Funktionen und Transformationen haben meist jeweils eigene Artikel in Wikipedia. Da sie aber bei der Definition der fraktionalen Integrale elementar wichtig sind, sollen sie hier kurz als Definitionen zusammengefasst werden.
Als Verallgemeinerung der Fakultätsfunktion wird die Gammafunktion wie folgt definiert:
Für ganzzahlige Argumente ergibt sich . Im Falle der unvollständigen Gammafunktion wird nicht bis unendlich, sondern nur bis zu einem bestimmten Wert y integriert:
- .
Die Eulersche Betafunktion wird definiert als
- ,
wobei sie sich auch als Produkt von Gammafunktionen darstellen lässt
- .
Als Erweiterung der geometrischen Reihe wird die Verallgemeinerte hypergeometrische Funktion definiert als
- .
Sofort einsichtig ist der Spezialfall
- .
Für definiert man
als Fouriertransformation, und
als Rücktransformation.
Man beachte, dass es verschiedene Definitionsmöglichkeiten der Fouriertransformation gibt, die sich darin unterscheiden, in welche Transformation man das Minuszeichen in der e-Funktion schreibt, oder wo der Faktor von 2π auftaucht.
Translationsoperator: .
Streckoperator: .
Faltung: .
Daraus folgt der Faltungssatz: Für ist
- .
Die Fouriertransformation macht also aus der Faltung zweier Funktionen die Multiplikation ihrer Fouriertransformierten.
Weiter gilt für
- .
Sei eine lokal integrierbare Funktion, dann ist die Laplacetransformation definiert als
Die Laplacefaltung wird ähnlich wie die Fourierfaltung definiert und liefert einen ähnlichen Zusammenhang:
Bereits die Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz und Leonhard Euler beschäftigten sich mit der Verallgemeinerung des Ableitungsbegriffes. Leibniz schildert in einem Brief an Guillaume François Antoine, Marquis de L’Hospital die Ähnlichkeit zwischen Potenzen und der Produktregel von Ableitungen:
was sich scheinbar einfach auf
verallgemeinern lässt (wobei man im Falle von α-n negativ setzt). Jedoch treten bei solch naiver Verwendung von Symboliken Probleme auf.
Als Beispiel wähle man eine Funktion f so, dass
Man beachte das mathematisch an sich nicht korrekte „Durchmultiplizieren“ mit dx. Man denkt bei so einer Funktion direkt an die e-Funktion, die jedoch damals noch nicht explizit als solche bekannt war. Wo trifft man nun auf einen Widerspruch, wenn man betrachtet? Um das zu sehen setzt man einfach :
Somit kann Leibniz’ einfacher Ansatz nicht die geeignete Lösung des Problems sein.
Euler betrachtete ganzzahlige Ableitungen von Potenzfunktionen zm. Für diese gilt:
Er versuchte nun, diese Beziehung durch Ersetzen der Fakultäts- durch die von ihm gefundene Gammafunktion auf nichtganzzahlige Potenzen zu verallgemeinern:
Auch dieser Weg führt zu Widersprüchen. Wieder betrachte man die e-Funktion eλx, welche n-mal differenziert λneλx ergibt; verallgemeinert also:
Auf der anderen Seite jedoch ist die e-Funktion nur eine unendliche Potenzreihe, nämlich .
Somit hat man zwei Möglichkeiten die α-Ableitung von ex zu berechnen:
- Direkt:
- Indirekt über die Potenzreihendarstellung:
Diesen Widerspruch kann man mit dem Beispiel α=−1 erklären, wenn wieder negative Exponenten der Differentialoperatoren als Integrale aufgefasst werden:
Die unterschiedlichen unteren Grenzen verdeutlichen, dass man mit diesem Ansatz „wissen muss“, von wo bis wo man zu integrieren hat, um die korrekte Stammfunktion zu finden. Somit ist auch Eulers Ansatz, obwohl von der Idee und Ausführung her besser, nicht geeignet, den Differentialoperator korrekt auf reelle Potenzen zu verallgemeinern.
Eine Möglichkeit, fraktionale Integrale widerspruchsfrei zu definieren ergibt sich aus der Formel
- ,
die die doppelte Integration über zwei Variablen mit gleicher unterer Grenze in ein einziges Integral überführt. Diese Formel kann auf beliebig viele Integrale erweitert werden.
Führt man nun noch den Integraloperator wie folgt ein
- ,
wobei F(x) eine Stammfunktion von f(x) ist, dann können beliebig hohe Potenzen dieses Operators dank obiger Formel von Mehrfachintegralen auf ein einziges Integral zurückgeführt werden:
- .
Im Gegensatz zu den Formeln zu Beginn kann man diesen Integraloperator relativ problemlos von ganzen Zahlen n auf reelle (bzw. komplexe) Zahlen α verallgemeinern, indem man n durch α und die Fakultät durch die Gammafunktion ersetzt und fordert, dass :
Dies wird rechtsseitiges fraktionales Riemann-Liouville-Integral genannt. Analog dazu kann durch
das linksseitige Äquivalent definiert werden.
Definiert man die Distribution , kann das fraktionale Integral auf eine Laplacefaltung zurückgeführt werden:
- ,
da
Lässt man in den obigen Gleichungen beziehungsweise betragsmäßig gegen Unendlich gehen, erhält man die sogenannten Weylintegrale und die entsprechenden partiellen Integraloperatoren
für und mit der Definitionsmenge . Diese Bedingung ist zum Beispiel für mit erfüllt.
Auch fraktionale Weylintegrale lassen sich auf Faltungen zurückführen. Allerdings sind dies Fourierfaltungen, da Weylintegrale eine unendliche untere beziehungsweise obere Grenze haben.
was durch überführt werden kann in
- mit
Daher ergibt die Fouriertransformation für
Man sieht also, dass der fraktionale Riemann-Liouville-Integraloperator durch die Laplacefaltung, der fraktionale Weyl-Integraloperator entsprechend durch die Fourierfaltung diagonalisiert wird.
:
Substituiere
Im Spezialfall α=1 wird daraus
mit der Substitution :
Man erkennt also, dass man auch bei diesem Integraloperator, ähnlich wie bei Eulers Ansatz, „wissen muss“, von wo bis wo man zu integrieren hat, um die eigentliche Stammfunktion einer Funktion zu erhalten, jedoch steckt dies in der Operatordefinition explizit drin. Somit muss die untere Grenze so gewählt werden, dass in (siehe ganz oben, Def. von Ia+) das F(a) verschwindet und man F(x) (bzw. das fraktionale Äquivalent dazu) erhält. So haben wir in diesem zweiten Beispiel von -∞ bis x integriert, wohlwissend, dass eax für a → -∞ gegen 0 geht. Daher integrieren wir diese Funktion einfach noch einmal, diesmal jedoch mit unterer Grenze 0 und der Substitution :
Substituiert man hier nun noch az mit t, dann ergibt sich:
:
Substitution von z mit y/x führt auf
Man vergleiche dies mit . Man sieht, dass man einfach a=1, b=-β, c=α+1 und z=-x/c setzen muss, um das obige Integral zu erhalten. Also ist
Da sich mit hypergeometrischen Funktionen sehr viele andere Funktionen darstellen lassen bietet es sich an, hier eine Formel zu deren Integration darzustellen.
Ganz allgemein gilt
- .
Die beiden Riemann-Liouville- und die beiden Weylintegrale sind also jeweils dual zueinander. So kann man in Integralen das fraktionale Integral von einer Funktion auf die leichter zu integrierende verschieben.
Durch den Ansatz
soll versucht werden, einen allgemeineren Integraloperator zu definieren. Die Betragsstriche statt einfach runde Klammern deuten bereits an, dass für diesen eine Art Kugelsymmetrie vorausgesetzt wird. C(α) soll so bestimmt werden, dass die Additivität der Ordnung (IαIβ=Iα+β) weiterhin gilt. Man kann schon vermuten, dass dieser Operator einfach eine Linearkombination aus den bereits bekannten Weylintegraloperatoren ist, was man auch beweisen kann:
Also ist
was man auch auf höhere Dimensionen verallgemeinern kann:
Nun ist die Frage, wie C(d,α) bestimmt werden kann. Wenn man die Wahl so treffen möchte, dass gilt, dann ergibt sich nach eingehendem Studium der Fouriertransformation für C(d,α):
- .
Unter Ausnutzung der Formeln und ergibt sich somit im eindimensionalen Fall:
Dies wird fraktionales Riesz-Feller-Integral genannt.
Die Formel lässt den Schluss zu, dass man weitere derart allgemeine Integraloperatoren durch
definieren kann, was das Riesz-Feller-Integral zum Spezialfall c+=c-=1 macht. Z. B. ergibt sich für c+=1 und c-=−1
Diese beiden Operatoren sind verknüpft durch die Hilberttransformation:
Feller hat für Integrale der Form
bewiesen, dass die Additivität der Ordnung gilt. Diese Integrale lassen sich ebenfalls als Linearkombination der obigen Form darstellen, dazu muss man nur
wählen.
Problem in zwei Dimensionen: ein Massepunkt fällt unter Einfluss der Schwerkraft entlang einer festen, aber unbekannten Bahn y=h(x) von der Höhe y0 auf Höhe y1; die Zeit, die er dafür benötigt, wird angegeben mit = Zeit des Falles von festem y0 zu variablem y1. Die Frage ist nun: Lässt sich aus Kenntnis der Fallzeiten allein bereits h(x) bestimmen?
Wir setzen v(y) gleich dem Betrag der Momentangeschwindigkeit, dann ergibt sich für die Zeitdauer des Falles von P0 auf P1: mit s(y) gleich dem zurückgelegten Wert als Funktion der Höhe. Wenn nun y=h(x) invertierbar ist, dann ist x=h−1(y)=Φ(y) und das Bogenlängendifferential mit der Bogenlänge
Aus dem Energiesatz folgt . Einsetzen in die Gleichung für T ergibt
Definiert man nun (und bedenkt, dass ist), dann ergibt sich
- Richard Herrmann: Fraktionale Infinitesimalrechnung. Eine Einführung für Physiker. BoD, Norderstedt 2014, ISBN 978-3-7357-4109-7.
- Richard Herrmann: Fractional Calculus - An Introduction for Physicists. World Scientific, Singapore 2014, ISBN 978-981-4551-07-6.
- F. Mainardi: Fractional Calculus and Waves in Linear Viscoelasticity: An Introduction to Mathematical Models. Imperial College Press, 2010, ISBN 978-1-84816-329-4.
- V. E. Tarasov: Fractional Dynamics: Applications of Fractional Calculus to Dynamics of Particles, Fields and Media. Springer, 2010, ISBN 978-3-642-14002-0.
- V. V. Uchaikin: Fractional Derivatives for Physicists and Engineers. Springer, Higher Education Press, 2012, ISBN 978-3-642-33910-3.
- Thomas J. Osler: Leibniz Rule for Fractional Derivatives Generalized and an Application to Infinite Series. In: SIAM Journal on Applied Mathematics. Band 18, Nr. 3, 1970, S. 658–674, doi:10.1137/0118059.
- Edmundo Capelas de Oliveira, José António Tenreiro Machado: A Review of Definitions for Fractional Derivatives and Integral. In: Mathematical Problems in Engineering. Band 2014, 2014, S. 1–6 (ID 238459), doi:10.1155/2014/238459.
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