Kretinismus

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Klassifikation nach ICD-10
E00 Angeborenes Jodmangelsyndrom
E00.0 Angeborenes Jodmangelsyndrom, neurologischer Typ
E00.1 Angeborenes Jodmangelsyndrom, myxödematöser Typ
E00.2 Angeborenes Jodmangelsyndrom, gemischter Typ
E00.9 Angeborenes Jodmangelsyndrom, nicht näher bezeichnet
E03.0 Angeborene Hypothyreose mit diffuser Struma
E03.1 Angeborene Hypothyreose ohne Struma
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ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Als Kretinismus (abgeleitet von französisch crétin, möglicherweise von lateinisch crista, „Auswuchs, Erhebung“, bezogen auf den menschlichen Kropf[1]) oder angeborenes Jodmangelsyndrom wird das durch eine unzureichende Wirkung von Schilddrüsenhormonen und Jodmangel verursachte Vollbild der unbehandelten angeborenen Hypothyreose (Schilddrüsenunterfunktion) bezeichnet.

Wenn die kindliche Schilddrüse zu wenig Thyroxin produziert, verlangsamt sich der gesamte Stoffwechsel. Es kommt zu Missbildungen des Skeletts (verkürzte Extremitäten, Kleinwuchs), Sprachstörungen, Schwerhörigkeit, evtl. Taubheit. Die Kinder haben oft eine dicke Zunge und trockene Haut, manchmal ein aufgedunsenes Gesicht. Außerdem kann Kretinismus zu einer Adipositas führen, bedingt durch den geringeren Grundumsatz bei Schilddrüsenunterfunktion. Häufig liegt eine Bindegewebsschwäche vor, die sich etwa durch das Auftreten eines Nabelbruchs zeigt.[2] Möglich sind auch eine verminderte Spannkraft der Muskeln[3] und das Auftreten unkoordinierter Bewegungen sowie eine zurückgebliebene geistige Entwicklung. Ursächlich hierfür ist, dass durch den Mangel an Schilddrüsenhormonen sowohl im zentralen als auch im peripheren Nervensystem die Ausbildung von Axonen, Dendriten, Nervensynapsen und Myelinscheiden verlangsamt ist.[4]

Kretinismus, Kupferstich um 1815

Eine angeborene Hypothyreose, deren Vollbild der Kretinismus ist, tritt statistisch gesehen bei etwa 0,2 ‰ aller Neugeborenen auf.[5] Er entsteht durch eine fehlende oder insuffizient angelegte Schilddrüse (Aplasie oder Dysplasie), eine nicht ausreichende Hormonbiosynthese oder -ausschüttung, selten auch durch eine Hormonresistenz aufgrund von T3-Rezeptordefekten. Auch Jodmangel bei der Mutter kann eine angeborene Hypothyreose des Kindes bedingen.[6] Beim Kind ist der Jodmangel weltweit die häufigste vermeidbare Ursache von mentaler Retardierung.[4][5] Jod wird von der Schilddrüse zur Bildung der Schilddrüsenhormone benötigt.

Ausgelöst werden kann der Kretinismus aber auch bereits im Mutterleib durch eine Schilddrüsenunterfunktion der Mutter. Produziert die Schilddrüse der Mutter zu wenig oder gar keine Schilddrüsenhormone, besteht die Gefahr von Missbildungen und neurologischen Schäden beim Kind, da in Zeiten des Wachstums die Zellen und Organe besonders stark von den Schilddrüsenhormonen abhängig sind.

Da eine frühe Diagnosestellung über den weiteren Verlauf der Erkrankung entscheidet, ist ein Hypothyreosescreening gesetzlich vorgeschrieben. Hinweise auf eine verminderte Schilddrüsenfunktion werden durch eine Routineuntersuchung von einigen Tropfen Blut am 2.–5. Lebenstag, welches häufig aus der Ferse gewonnen wird, gesucht. Ein erhöhter TSH-Spiegel lässt hierbei Rückschlüsse auf eine Unterfunktion der Schilddrüse zu.

Behandlung und Vorbeugung

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Eine Behandlung sollte so früh wie möglich beginnen, sie kann das normale Körperwachstum wiederherstellen[7] und ist lebenslang nötig. Dazu wird Thyroxin unter regelmäßigen Kontrollen des Hormonspiegels im Blut verwendet. Durch zu späten Beginn der Substitutionsbehandlung entstandene Hirnschäden sind irreversibel.

In Jodmangelgebieten kommt der Prophylaxe mit Jod bzw. jodiertem Salz in Schwangerschaft und Kindheit eine besondere Bedeutung zu.

In lateinischer Fachsprache ist die Bezeichnung cretinismus seit 1656[8] belegt, seit dem 18. Jahrhundert ist sie auch im Französischen (crétinisme), Deutschen (Cretinismus, Kretinismus) und weiteren europäischen Volkssprachen etabliert. Sie ist abgeleitet aus französisch crétin „an Kretinismus leidender Mensch, verallgemeinert: mißgebildeter Schwachsinniger, Dummkopf“, das seit François Génin aus lateinisch christianus „christlich, Christ“ hergeleitet wurde,[9][10] unter Annahme einer phonetisch anomalen Entwicklung von lateinisch -ianus zu französisch -in statt -ien und einer nicht dokumentierten Bedeutungsentwicklung „Christ > unschuldiger Mensch > gutartiger Schwachsinniger“. In der ersten eingehenden Untersuchung neuerer Romanistik stellt Christian Schmitt die Hypothese auf, dass als Etymon lateinisch crista „Auswuchs, Erhebung“, schon im klassischen Latein unter anderem für schwellende oder wuchernde Auswüchse im Kopf- und Rückenbereich von Tieren gebraucht, in Verbindung mit dem lateinisch Suffix -inus unter Annahme einer Bedeutung wie cristinus > „im Kopfbereich mißgebildeter, bekropft“ eine phonetisch und inhaltlich plausiblere Konstruktion der Entstehungsgeschichte erlaube.[1]

Medizingeschichte

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Johann Jakob Guggenbühl im Jahr 1853 mit einigen der von ihm betreuten Kinder

Geschichtlich gehen aus dem Interesse einiger Ärzte am bereits im Mittelalter dargestellten, im 16. Jahrhundert als in bestimmten Gegenden gehäuft vorkommend festgestellten und von Felix Platter zu Beginn des 17. Jahrhunderts eindrucksvoll beschriebenen Kretinismus die ersten Gründungen von Anstalten für „blödsinnige“ Kinder hervor. Ein erstes Beispiel ist die 1841 gegründete „Heilanstalt für Kretinen und blödsinnige Kinder“[11] des Schweizer Arztes Johann Jakob Guggenbühl[12][13] bei Interlaken. Es folgten weitere Anstaltsgründungen im alpinen und süddeutschen Raum, vor allem in Württemberg, darunter die 1847 vom Uracher Oberamtsarzt Carl Heinrich Rösch gegründete Heil- und Pflegeanstalt Mariaberg, die mit differenzierten Angeboten der Beschulung, der Beschäftigung und des betreuten Wohnens als erste deutsche Komplexeinrichtung der modernen Behindertenhilfe auf medizinisch-wissenschaftlicher Grundlage gilt (heute – mit erweiterter Konzeption – bekannt unter dem Namen Mariaberg e. V.). Als Ursache der geographischen Häufung von Kretinismus wurde eine Kombination von Umwelteinflüssen (Boden, Klima, Sitten, soziale Lage, Wohnsituation), aber auch erbliche und infektiologische Ursachen diskutiert.[14] Das Vorkommen des Kretinismus wurde von den Fachvertretern besonders stark in den Alpentälern beobachtet, während das Leiden in der Höhenluft nicht mehr zu existieren schien.

Guggenbühl beschreibt die regionalen klimatischen Bedingungen und die schlechten Hygiene-Zustände in den Dörfern als Ursachen des Kretinismus:[12]

„Kein frisches Lüftchen durchstreicht die Gemächer, der gräßlichste Gestank ist den Leuten ein wahrer Lebensbalsam; kein Sonnenstrahl kann sie erleuchten, da die ohnedies kleinen Fenster vor Schmutz ganz undurchsichtig und obendrein meist mit Papier verklebt sind. Die Stuben sind so feucht, daß Cryptogamen an den Wänden gedeihn, dazu mit unsaubern Kleidern und was sonst noch stinkt behangen, so daß ein Gifthauch den Raum erfüllt, der mich […] mehrfach zum Erbrechen reizte. […] Nach der Geburt werden die Kinder in die Wiege eingebunden, bleiben Tage lang auf ihrem Unflath liegen; in eine Kammer eingeschlossen, ganz isolirt und sich selbst überlassen, bis die Arbeit vollbracht ist.“

Später allerdings bezeichnet Guggenbühl mit dem Begriff des Kretinismus sämtliche Formen von geistiger Behinderung. Er geht überdies noch von einer möglichen Heilung des Kretinismus durch Höhenluft, Reinlichkeit, Diät, medizinische Behandlung aber auch die richtige Erziehung aus.

Zur Erforschung zum seinerzeit in den Dörfern Frankens häufig anzutreffenden Phänomen des Kretinismus untersuchte der Würzburger Pathologe Rudolf Virchow zahlreiche Schädel unterfränkischer Verstorbener und publizierte seine Ergebnisse ab 1851,[15][16] etwa mit seiner Arbeit Über den Kretinismus, namentlich in Franken, die als Veröffentlichung der Würzburger Physikalisch-medizinischen Gesellschaft erschien.[17]

Die Vorstellung, dass der Kretinismus auf einem Mangel an Schilddrüsensekret während der Entwicklung des Kindes in der Gebärmutter und danach beruht, setzte sich durch, nachdem der Berner Chirurg Theodor Kocher 1883 festgestellt hatte, dass Kinder nach einer Entfernung der Schilddrüse wie „Kretins“ aussahen.[18]

In den neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts führte Julius Wagner-Jauregg (1857–1940) in der Steiermark grundlegende Studien über den Kretinismus durch und behandelte ihn mittels Schilddrüsenextrakten.[19][20] Anschließend führte man den endemischen Hormonmangel auf eine zu geringe Jodzufuhr durch das Trinkwasser zurück und dementsprechend wurde in der Jodsubstitution eine dem Kretinismus vorbeugende Maßnahme gesehen.[21] Um 1905 behandelte der Würzburger Psychiater Wilhelm Weygandt den endemischen Kretinismus erfolgreich mit Thyreoidin-Tabletten.[22]

Die ab 1918 im Mattertal durch Otto Bayard und dann ab 1922 in Appenzell Ausserrhoden durch Hans Eggenberger, später gesamtschweizerisch durchgesetzte Vorsorge mit Jodsalz hatte weltweiten Pioniercharakter. In der Folge wurden in der Schweiz keine Kretine mehr geboren.[23]

Weitere Begriffsverwendungen

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Karl Marx prägte den Begriff Parlamentarischer Kretinismus.

  • Paul Cranefield, Walter Federn: Paracelsus on goiter and cretinism: a translation and discussion of „De Struma, Vulgo Der Kropf“. In: Bulletin of the History of Medicine. Band 37, 1963, S. 463–471.
  • Franz Merke: Geschichte und Ikonographie des endemischen Kropfes und Kretinismus. Bern/Stuttgart/Wien 1971.
  • Thomas Schlich: Kretinismus. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin / New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 806.
  • Kretinismus. In: Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Auflage. Band 11: Kimpolung–Kyzĭkos. Bibliographisches Institut, Leipzig / Wien 1907, S. 641–643 (Digitalisat. zeno.org).
Wiktionary: Kretinismus – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

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  1. a b Christian Schmitt: Christentum und Kretinismus. Zu den Auswirkungen fachwissenschaftlichen Defizits bei der etymologischen Forschung. In: Romanistisches Jahrbuch. Band 59, 2008, S. 29–45.
  2. Kretinismus: Symptome. onmeda.de
  3. Kretinismus. symptomat.de
  4. a b A. Barg: Fälle Physiologie. Elsevier, 2006, ISBN 3-437-41281-7, S. 91.
  5. a b Gerd Herold: Innere Medizin. 2013, S. 751.
  6. K. Middendorf: Geburtshilfe Basics. Springer, Berlin / Heidelberg 2006, S. 79–82; abgerufen am 12. Februar 2008.
  7. Lois Jovanovic, Genell J. Subak-Sharpe: Hormone. Das medizinische Handbuch für Frauen. Aus dem Amerikanischen von Margaret Auer. Kabel, Hamburg 1989, ISBN 3-8225-0100-X, S. 379 (Originalausgabe: Hormones. The Woman’s Answerbook. Atheneum, New York 1987).
  8. Christian Helfer: Lexicon auxiliare. Ein deutsch-lateinisches Wörterbuch. 3. Auflage. Saarbrücken 1991, S. 330.
  9. François Génin: Récréations philologiques. Band 2. Paris 1856, S. 163–166.
  10. Vgl. auch Duden: Kretin.
  11. Geschichte der Sonderpädagogik. sonderpaed-online.de
  12. a b Johann Jakob Guggenbühl: Hülfsruf aus den Alpen, zur Bekämpfung des schrecklichen Cretinismus. In: Maltens Bibliothek der neuesten Weltkunde. Band 1, Aarau 1840, S. 191 ff. books.google.com
  13. Inghwio aus der Schmitten: Schwachsinnig in Salzburg. Zur Geschichte einer Aussonderung. Verlag Umbruch, Werkstatt für Gesellschafts- und Psychoanalyse, Salzburg 1985.
  14. Thomas Schlich: Kretinismus. In: Werner Gerabek mit Bernhard Dietrich Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner: Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin / New York (2004) 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 806 (zitiert).
  15. Heinz Otremba: Rudolf Virchow. Begründer der Zellularpathologie. Eine Dokumentation. Echter-Verlag, Würzburg 1991, S. 21.
  16. Johannes Gstach: Kretinismus und Blödsinn. Zur fachlich-wissenschaftlichen Entdeckung und Konstruktion von Phänomenen der geistig-mentalen Auffälligkeit zwischen 1780 und 1900 und deren Bedeutung für Fragen der Erziehung und Behandlung. (Habilitationsschrift, Wien 2014) Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2015, ISBN 978-3-7815-2003-5, S. 368.
  17. Andreas Mettenleiter: Das Juliusspital in Würzburg. Band III: Medizingeschichte. Herausgegeben vom Oberpflegeamt der Stiftung Juliusspital Würzburg anlässlich der 425jährigen Wiederkehr der Grundsteinlegung. Stiftung Juliusspital Würzburg (Druck: Bonitas-Bauer), Würzburg 2001, ISBN 3-933964-04-0, S. 453–454.
  18. Thomas Schlich: Kretinismus. 2005, S. 806.
  19. Julius Wagner-Jauregg (Memento vom 28. Juni 2009 im Internet Archive) auf der Internetseite des Institutes für Geschichte der Medizin der Universität Wien
  20. Werner E. Gerabek, Werner Gerabek (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. Walter de Gruyter, 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1463 (1544 S., eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  21. Thomas Schlich: Kretinismus. 2005, S. 806.
  22. Gerhardt Nissen: Frühe Beiträge aus Würzburg zur Entwicklung einer Kinder- und Jugendpsychiatrie. In: Peter Baumgart (Hrsg.): Vierhundert Jahre Universität Würzburg. Eine Festschrift. Degener & Co. (Gerhard Gessner), Neustadt an der Aisch 1982 (= Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Würzburg. Band 6), ISBN 3-7686-9062-8, S. 935–949, hier: S. 945.
  23. Claudine Als: Kretinismus. In: Historisches Lexikon der Schweiz. 4. November 2008, abgerufen am 12. Juni 2019.