Langarmschwinge

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Langarmschwinge geschoben
Langarmschwinge gezogen

Die Langarmschwinge bezeichnet eine Schwingen-Bauart der Vorderradführung bei Motorrädern.[1] Synonym ist die Langschwingengabel,[2] viele modernere Konstruktionen basieren auf dem Patent der Earles-Gabel.[3] Fahrwerke mit Langarmschwingen an Vorder- und Hinterrad wurden oft als Vollschwingen-Fahrwerk bezeichnet. Eine andere, einfachere Schwingenbauart am Vorderrad ist die Kurzschwinge. Schwinghebelgabel ist ein in den 1950er Jahren entstandener Oberbegriff, der Schwingenführung am Vorderrad von Motorräder allgemein bezeichnet.[4][5] Technisch gesehen handelt es sich auch bei Motorrad-Hinterradschwingen um (gezogene) Langarmschwingen.

Erste Langarmschwingen sind von Peugeot (1904)[6][7] und Allright (1905)[8] bekannt; die dabei verwendeten Baumuster waren Truffault-Gabeln. Jules Truffault entwickelte diese Art der Vorderradführung an einem Fahrrad bereits 1898. 1901 bekam Truffault seine gefederte Vorderradführung an langen geschobenen Armen patentiert.[9] Auf die geschobene Langarmschwinge erhielt der Brite Ernest Richard George Earles (1903–1972) am 5. Dezember 1951 ein Patent.[3] Diese Bauform war zunächst für den Motorradsport entwickelt worden. Erster Anwender der Earles-Gabel waren 1952 MV Agusta an der 4-Zylinder-Rennmaschine,[10][11] und BSA, ebenfalls an einer Rennmaschine.[12] BMW brachte 1953 die RS 54, ein königswellengesteuertes Rennmotorrad mit Earles-Gabel auf die Rennstrecke – davon profitierte später die Serienfertigung, im selben Jahr wie Mondial. Erstes Serienmotorrad mit Earles-Gabel war die Tornax S250 von 1953.[13] Zahlreiche weitere Hersteller brachten danach eine Earles-Gabel unter der Bezeichnung Schwingenfahrwerk oder Vollschwingenfahrwerk auf den Markt. Bei BMW verdrängte die Langschwingengabel von 1955 bis 1969 die Teleskopgabel völlig aus der Serienproduktion (siehe Vollschwingen-BMW), auch bei MZ wurden 1963–1968 ausschließlich Motorräder mit Langarmschwinge produziert.

Bei der Langarmschwinge befindet sich der Schwingendrehpunkt außerhalb des Reifenumfangs, bei der Kurzschwinge oder Kurzarmschwinge innerhalb des Reifenumfangs. Die Langschwingengabel in Earles-Bauform[14] ist eine geschobene Schwinge, sie führt das Vorderrad in einer hinten um das Rad geführten Schwinge, die durch zwei Federbeine unter der unteren Gabelbrücke abgestützt ist. Bei der geschobenen Langarmschwinge befindet sich der Schwingendrehpunkt in Fahrtrichtung gesehen hinter der Radachse, bei der gezogenen Langarmschwinge vor der Radachse. Die meisten Motorräder mit Langarmschwinge sind äußerlich an dem massiven Schwingenträger und der Schwinge erkennbar. Es gab jedoch auch Konstruktionen, bei denen die Bauteile in den Kotflügel integriert und teilweise verdeckt wurden, ein Beispiel dafür ist die Simson Schwalbe.

Verwendung am Vorderrad

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Geschobene Langarmschwinge (Auswahl)

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Gezogene Langarmschwinge

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Vor- und Nachteile

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der entscheidende Vorteil der geschobenen Langarmschwinge im Vergleich zur Teleskopgabel ist, dass beim Bremsvorgang kein „Eintauchen“ des Fahrzeugs auftritt, zudem sind die Nickbewegungen geringer.[15] Vor allem im Vergleich zu Teleskopgabeln der 1950er Jahre bot die Langarmschwinge durch feineres Ansprechen auf Fahrbahnunebenheiten einen erheblich besseren Federungskomfort und gleichzeitig eine höhere Steifigkeit. Insgesamt wird eine bessere Aufteilung von Führungs- und Federungsfunktion erreicht. Typisch für Schwingenfahrwerke sind beim Ein- und Ausfedern kleine, vernachlässigbare Änderungen des Radstands. Auch der Nachlauf ändert sich durch die Kreisbogen-Bewegungen der Radachsen, je kürzer die Vorderschwinge, umso stärker.

Der entscheidende Nachteil ist das größere Gewicht. Das Trägheitsmoment um die Lenkachse ist deshalb im Vergleich zur Teleskopgabel um 74 % größer.[16][17] Das aufrichtend wirkende Bremsmoment geschobener Langarmschwingen kann bei manchen Konstruktionen sogar zum Ausfedern des Vorderrades beim Bremsvorgang führen („Aufbäumen“), was in dem Fall die Fahrstabilität beim Bremsen verschlechtert. Weiterhin tritt an einigen Fahrzeugen mit Langarmschwinge in bestimmten Fahrzuständen eine Neigung zum Lenkerpendeln auf, beispielsweise beim freihändigen Fahren im Schiebebetrieb oder bei stark belastetem Gepäckträger.

Heutige Anwendung

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Aktuell wird die Langarmschwinge zur Vorderradführung bei keinem Serienmotorrad mehr angeboten. Da im Gespannbetrieb die Vorteile der Vorderschwinge überwiegen und auch das höhere Gewicht der Radführung wegen des höheren Fahrzeuggesamtgewichts weniger Bedeutung hat, ist die Langschwingengabel bei Gespannen nach wie vor gebräuchlich. Um eine aktuelle Solomaschine für Seitenwagenbetrieb umzurüsten, ist ohnedies ein kleinerer Nachlauf nötig, da ansonsten sehr hohe Lenkkräfte bei Kurvenfahrt entstehen. Bei den von BMW produzierten Langschwingen wurde dies mit einem Paar zweiter Achsenaufnahmen (vor der „Solo“-Position) erreicht, das den Nachlauf verringerte.[18] Dies ist auf dem Foto direkt hinter dem Rad zu sehen: die silberfarbene Aluminiumkappe zeigt die Steckachse in der Solo-Position. Etwa 50 mm davor finden sich die zweiten Bohrungen zum Gespannbetrieb, hier korrekt abgedeckt mit einem schwarzen Gummi-Pilzstopfen.

Für die Verwendung als Hinterradschwinge hat sich die ein- oder zweiarmige gezogene Langarmschwinge bei Motorrädern hingegen durchgesetzt. Am Hinterrad wird die Langarmschwinge gemeinhin nur als Schwinge bezeichnet.

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Helmut Werner Bönsch: Einführung in die Motorradtechnik. 3. Auflage, Motorbuch Verlag Stuttgart, 1981, ISBN 3-87943-571-5, S. 88.
  2. Wolfgang Matschinsky: Radführungen der Straßenfahrzeuge. 2. Auflage, Springer Verlag 1998, ISBN 978-35406-4155-1, S. 333
  3. a b Patent GB693646A: Motor cycle front wheel forks. Angemeldet am 25. Januar 1951, veröffentlicht am 1. Juli 1953, Erfinder: Ernest Richard George Earles.
  4. J. Kleine Vennekate: Deutsche Motorräder der 50er Jahre. Verlag Kleine Vennekate, 2002, ISBN 978-39355-1707-2, S. 9.
  5. Das MOTORRAD Heft 25/1956
  6. S. Ewald: Enzyklopädie des Motorrads. Bechtermünz Verlag, Augsburg 1996, ISBN 3-86047-142-2, S. 379.
  7. L. J. K. Setright: The Guinness Book of Motorcycling. Facts and Feats. 1982, ISBN 0-85112-255-8, S. 152.
  8. Horst Nordmann/Fritz, Mika Hahn: Kölsche Zweiradgeschichten. Pioniere, Rennfahrer, Schicksale, Köln 2003, ISBN 3-00-011139-5, S. 34.
  9. Patent GB190005391A: Improvements in or relating to Springs particularly applicable to Cycles, Motor Vehicles and the like. Angemeldet am 21. März 1900, veröffentlicht am 16. Februar 1901, Anmelder: Patentanwalt Alfred Julius Boult, Erfinder: Jules Michel Marie Truffault.
  10. Stefan Knittel: Motorrad Lexikon. BLV, München u. a. 1981, ISBN 3-405-12226-0, S. 52
  11. Mario Colombo/Roberto Patrignani: MV Agusta. Motorbuch, Stuttgart 2000, ISBN 3-613-01416-5. S. 224.
  12. Roy Poynting: The Sammy Miller Museum Collection. 2009, ISBN 978-0-9555278-0-7, S. 22
  13. Norbert Adolph: Fahrwerk - Bindeglied zur Straße. In: Christian Bartsch (Hrsg.): Ein Jahrhundert Motorradtechnik. VDI Verlag, Düsseldorf 1987, ISBN 3-18-400757-X, S. 199.
  14. Stefan Knittel: Motorrad Lexikon. BLV Verlag, Zürich u. a. 1981, ISBN 3-405-12226-0, S. 52.
  15. Wolfgang Matschinsky: Radführungen der Straßenfahrzeuge. 2. Auflage, Springer Verlag 1998, ISBN 978-35406-4155-1, S. 332
  16. Helmut Werner Bönsch: Einführung in die Motorradtechnik. 3. Auflage, Motorbuch Verlag Stuttgart, 1981, ISBN 3-87943-571-5, S. 79.
  17. Tony Foale, Vic Willoughby: Motorrad-Fahrwerk heute. Motorbuch Verlag, Stuttgart 1988, ISBN 3-613-01226-X, S. 21
  18. Institut für Zweiradsicherheit: Praxishefte Zweiradsicherheit 5. Heinrich Vogel Verlag München 1990, ISBN 3-574-27318-5, S. 14