Lateinschule Alfeld
Die Lateinschule ist ein historisches Fachwerkhaus in Alfeld, Niedersachsen (Adresse: Am Kirchhof 5). Mit seinem reichen Bild- und Architekturschmuck ist es ein herausragendes Beispiel der Hildesheimer Holzbaukunst.[1] Das Haus wurde (inschriftlich datiert) „1610“ erbaut und mehrfach restauriert. Heute befindet sich in ihm das Alfelder Stadtmuseum.
Geschichte
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Alfelder Lateinschule reicht als Institution bis ins Mittelalter zurück und dokumentiert die frühe Mittelpunktsbedeutung der Archidiakonatskirche St. Nicolai. Als das vorangegangene Schulgebäude um 1600 baufällig geworden war, rief Superintendent Bartholomäus Sengebär eine Sammlung von Geld- und Sachspenden für einen Neubau aus.[2] Nach zehn Jahren war das repräsentative Gebäude fertiggestellt. Inschrift und Bildprogramm dürften vom Superintendenten maßgeblich mitbestimmt worden sein. Als Lateinschule diente die Lehranstalt vor allem der Ausbildung künftiger Geistlicher, Rechtsgelehrter und Ärzte. 1784 wurde die Lateinschule in eine Bürgerschule umgewandelt.[1] Ab 1813 beherbergte das Gebäude ein Lehrerseminar[3]; seit 1928 ist es Museum.[3]
Architektur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der freistehende, zweigeschossige Eichenfachwerkbau ist 7,95 Meter breit und 19,20 Meter lang und auf einem roten (Röllinghäuser) Sandsteinsockel aufgesetzt.[4] Die (mehrfach, zuletzt 1982 erneuerten[5][6]) Gefache sind mit rotem Sichtziegelmauerwerk geschlossen; dagegen sind die Zonen der Fensterbrüstungen mit beschnitzten Holzbohlen geschlossen. Die Fenster sind seit dem 19. Jahrhundert paarweise angeordnet. Das Obergeschoss kragt in zeitgenössisch typischerweise kräftig vor, so dass mit Knaggen, Balkenköpfen und Füllhölzern eine markante Fassadengliederung gebildet wird. Sämtliche Holzflächen sind mit Schrift- und Bildschnitzerei verziert und farbig gefasst. Die Rahmung der Tür besteht aus Karyatiden-Säulen mit Korintherkapitellen. Das Wappen der Stadt wird von zwei Löwen gehalten. Das Gebäude wurde 1610 vom Hildesheimer Andreas Steiger erbaut.[7]
Bildprogramm
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Den Hauptschmuck des Gebäudes bilden die geschnitzten Füllungen der Fensterbrüstungen sowie die Inschriften. Nach der Baurechnung ist der reiche Figurenschmuck unter Leitung des Hildesheimer Bildschnitzers „Meister Andreas Steiger“ in der Stadt Alfeld selbst angefertigt worden.[1]
Der Architekturschmuck entfaltet das Weltbild und den Bildungskanon der Erbauungszeit. In querrechteckigen Reliefbildern sind über 100 allegorische, mythische und historische Figuren dargestellt, die alle Dimensionen des Humanen repräsentieren sollen: Sinne und Künste, Moral und Tugenden, Wissenschaften und Glaube.
Das Bildprogramm umfasst neben Engeln und Karyatiden[8]:
Westseite[9] | Ostseite[10] | Südseite[11] | Nordseite[12] |
---|---|---|---|
Ovid | Adam und Eva | Johannes | Josua |
Salomo | Seth | Matthäus | Ehud |
Tibull | Henoch | Markus | Schamgar |
David | Jakobs Traum | Lukas | Gideon |
Marcellinus | Jakobs Traum[13] | Christus | Jefta |
Judith | Noah | Johannes der Täufer | Samson |
Euterpe | Eleasar | Timotheus | Eli |
Polyhymnia | Pinhas | Petrus | Micha[14] |
Urania | Abjatar | Stephanus | Levi |
Clio | Abraham | Paulus | Urija |
Calliope | Isaak | Aaron | Martin Luther |
Erato | Sem | Mose | Philipp Melanchthon |
Thalia | Josef | Zacharias | Galen |
Melpomene | Moses Rettung | Apollos | Hippokrates |
Terpsichore | Mose mit den Gebotstafeln | Simeon | Tribonianus |
Geometrie | Aaron | Tertullus[15] | Bartolus |
Astronomie | Jesaja | Saul | Gesichtssinn |
Grammatik | Jeremia | David | Vernunft |
Rhetorik | Ezechiel | Salomo | Geschmackssinn |
Arithmetik | Daniel | Josafat | Geruchssinn |
Musik | Micha | Hiskija | Tastsinn |
Dialektik | Nahum | Joschija | Gehör |
Mäßigung | Hosea | ||
Klugheit | Joel | ||
Gerechtigkeit | Amos | ||
Tapferkeit | Obadja | ||
Geduld | Jona | ||
Glaube | Sacharja | ||
Hoffnung | Habakuk | ||
Liebe | Zefanja | ||
Haggai | |||
Maleachi |
Inschrift
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die vier Seiten des Gebäudes umläuft auf dem Schwellbalken des Obergeschosses eine geschnitzte lateinische Inschrift. Der Text verwendet das Bild der Himmelsleiter und spielt zugleich mit der Klangverwandtschaft von schola („Schule“, sprich skola) und scala („Leiter, Treppe“). Beginnend auf der Portalseite lautet die Inschrift[16]:
Text[17] | Übersetzung |
GEN 28 CAP | Genesis Kapitel 28[18] |
VIDIT ISAACIDES PORRECTAM AD SIDERA SCALAM, | Der Isaakssohn sah eine Leiter, aufgerichtet bis zu den Gestirnen, |
PERQUE HANC ANGELICOS IRE REDIRE CHOROS. | und auf ihr Engelchöre hin- und wiedergehen. |
ECCE TYPUM! | Siehe, ein Vorbild! |
QUID ENIM SCHOLA? | Denn was ist die Schule? |
QUID NISI MYSTICA SCALA, | Was sonst als eine mystische Leiter, |
CUIUS APEX SALVA ET RELIGIO ET REGIO EST? | deren Spitze eine gesunde Religion sowie ein gesundes Land ist? |
ORDO MAGISTRORUM HIC DESCENDIT, CAPTUI ADAPTANS DOGMATA, | Der Lehrerstand steigt hier herab, die Lehren dem Fassungsvermögen anpassend, |
UT ASCENDAT CARA IUVENTA GRADUS. | damit brave Jugend die Stufen emporsteige. |
CUR, AIS? | Warum, meinst du? |
EUSEBIA[19] UT VIGEAT, | Dass Gottesfurcht blühe |
THEMIS UTQUE TRIUMPHET, | und dass Gerechtigkeit triumphiere, |
SCEPTRA FORIS TENEAT PAX, HYGIEIA DOMI. | dass Friede draußen und Gesundheit daheim die Zepter behalten. |
HINC SUADENTE MINISTERIO PLAUDENTE SENATU | Daher wurde auf Rat des Ministeriums und mit Zustimmung des Senats |
URBIS SUMPTIBUS HAEC CONDITA SCALA FUIT. | aus den Einnahmen der Stadt diese Leiter gegründet. |
SUMME DEUS, DILECTE PARENS, | Höchster Gott, geliebter Vater, |
FAC DIVITES FRUCTU SCALAM, URBEM, | mach reich an Frucht die Leiter und die Stadt, |
ET POPULUM HUNC SOSPITET ALMA SALUS 1610 | und es bewahre dieses Volk ein gütiges Heil. 1610 |
Denkmalschutz
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Gebäude der Lateinschule ist als Einzeldenkmal (§ 3 Abs. 2 NDSchG) wegen seiner geschichtlichen, künstlerischen, wissenschaftlichen und städtebaulichen Bedeutung ausgewiesen. Es ist zugleich Teil der Gruppe baulicher Anlagen (§ 3 Abs. 3 NDSchG) Kirche und Umgebung.[20]
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Die Kunstdenkmäler der Provinz Hannover, Bd. II,6 Kreis Alfeld. Bearbeitet von Oskar Kiecker, Paul Graff. Selbstverlag der Provinzialverwaltung, Theodor Schulzes Buchhandlung, Hannover 1929, S. 72–76. (Digitalisat auf archive.org, abgerufen am 10. Mai 2022.) - Enthält auch Grundriss- und Querschnittzeichnungen.
- Horst Berndt (Hrsg.), Die Lateinschule in Alfeld. Michael Imhof Verlag, Petersberg bei Fulda 2010. ISBN 978-3-86568-621-3
- Gerd Weiß, Gustav Dehio, Dehio-Handbuch Bremen, Niedersachsen – Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Deutscher Kunstverlag, München u. a. 1992. ISBN 3-422-03022-0, S. 119.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Lateinschule - Ostseite, auf raymond-faure.com (Fotodokumentation von Raymond Faure)
- Alte Lateinschule, auf alt-alfeld.de (Mit zahlreichen historischen Abbildungen und Überblick zu den Restaurierungen.)
- Deutung des Bildprogramms (Martin Teske; PDF; 15 kB)
Einzelnachweise und Anmerkungen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ a b c Die Kunstdenkmäler der Provinz Hannover, Bd. II,6 Kreis Alfeld. Bearbeitet von Oskar Kiecker, Paul Graff. Selbstverlag der Provinzialverwaltung, Theodor Schulzes Buchhandlung, Hannover 1929, S. 72–76, hier S. 72.
- ↑ Teske (PDF; 15 kB)
- ↑ a b Alte Lateinschule, auf alt-alfeld.de (abgerufen am 10. Mai 2022).
- ↑ Die Kunstdenkmäler der Provinz Hannover, Bd. II,6 Kreis Alfeld. Bearbeitet von Oskar Kiecker, Paul Graff. Selbstverlag der Provinzialverwaltung, Theodor Schulzes Buchhandlung, Hannover 1929, S. 72–76, hier S. 72 f.
- ↑ Die Kunstdenkmäler der Provinz Hannover, Bd. II,6 Kreis Alfeld. Bearbeitet von Oskar Kiecker, Paul Graff. Selbstverlag der Provinzialverwaltung, Theodor Schulzes Buchhandlung, Hannover 1929, S. 72–76, hier S. 73.
- ↑ Alte Lateinschule. In: alt-alfeld.de. alt-alfeld Quintel & Schütz GbR, Alfeld/Leine, abgerufen am 11. Mai 2022.
- ↑ Horst Berndt: Die Lateinschule in Alfeld, Petersberg bei Fulda 2010
- ↑ Vgl. auch die Beschreibung in Die Kunstdenkmäler der Provinz Hannover, Bd. II,6 Kreis Alfeld. Bearbeitet von Oskar Kiecker, Paul Graff. Selbstverlag der Provinzialverwaltung, Theodor Schulzes Buchhandlung, Hannover 1929, S. 72–76, hier S. 74 ff.
- ↑ nach
- ↑ nach
- ↑ nach
- ↑ nach
- ↑ zwei Darstellungen
- ↑ Ri 17 EU
- ↑ Apg 24,1 EU
- ↑ Vgl. auch die Transkription in Die Kunstdenkmäler der Provinz Hannover, Bd. II,6 Kreis Alfeld. Bearbeitet von Oskar Kiecker, Paul Graff. Selbstverlag der Provinzialverwaltung, Theodor Schulzes Buchhandlung, Hannover 1929, S. 72–76, hier S. 74.
- ↑ Emendiert: Einige Buchstaben sind mehrdeutig
- ↑ Gen 28,10-12 EU
- ↑ Konjektur aus EUSERIE (?)
- ↑ Denkmalatlas: Datenblatt Altes Seminar, Lateinschule. Objekt-ID: 34576536
Koordinaten: 51° 59′ 10,3″ N, 9° 49′ 35,3″ O
- Bauwerk in Alfeld (Leine)
- Fachwerkhaus im Landkreis Hildesheim
- Renaissancebauwerk in Niedersachsen
- Heimatmuseum in Niedersachsen
- Erbaut in den 1610er Jahren
- Lateinische Inschrift
- Gegründet 1928
- Bildung in Alfeld (Leine)
- Museum im Landkreis Hildesheim
- Organisation (Alfeld (Leine))
- Baudenkmal im Landkreis Hildesheim