Zerrissenheit

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Zerrissenheit ist ein Begriff, der in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet wird. Mit ihm bezeichnete man ursprünglich einen Zustand der Zerknirschung des Herzens, der als Bedingung der inneren Umkehr des Sünders verstanden wurde. Diese noch im Pietismus vorherrschende Bedeutung veränderte sich schrittweise im späten 17., vor allem aber 18. Jahrhundert, als der Begriff zunehmend im weltlichen Zusammenhang verwendet wurde. Nun verstand man unter Zerrissenheit den Zwiespalt des Individuums, eine Bedrängnis der Seele, einen inneren Konflikt zwischen Wünschen und Wirklichkeit.[1]

Der Begriff wurde in der Phase der Empfindsamkeit, vor allem aber im Sturm und Drang zur Beschreibung des Menschen verwendet. Man empfand einen Zwiespalt zwischen Gefühl und Verstand, Geist und Trieb. Diese Zerrissenheit war ein zentrales Motiv in den meisten Dramen dieser Epoche.[2] Obwohl der Sturm und Drang einerseits Ideen der Aufklärung weiterentwickelte, stand er andererseits mit einigen ihrer Merkmale im Widerspruch. Der das Rationale betonenden Aufklärung mit ihrem Wahlspruch Sapere aude stellte der Sturm und Drang Herz, Gefühl, Ahnung und Trieb gegenüber.[3] Wie Hermann August Korff formulierte, bestand das Lebensgefühl dieser Epoche „in einem eigentümlichen Widerstreite zwischen dem entschiedenen Gefühl für den Wert aller Endlichkeiten, d. h. der Wirklichkeit, und dem entgegengesetzten Gefühl für die innerliche Unendlichkeit der Natur und des Lebens, vor der alle Endlichkeiten innerlich zunicht werden.“[4]

Friedrich Maximilian Klinger, der dem Sturm und Drang durch sein gleichnamiges Drama den Namen verleihen sollte, stellte die Zerrissenheit des Menschen exemplarisch in dem Trauerspiel Das leidende Weib dar.[5] Er beschrieb seine eigene Zerrissenheit: „Ich bin zerrissen in mir und kann die Fäden nicht wieder auffinden, das Leben anzuknüpfen.“ Wilhelm Heinse brachte die Selbstzweifel des Menschen in der Frage zum Ausdruck: „Was ist der Mensch? ein Punkt, zersetzt und zerrissen vom Schicksal auf allen Seiten.“[6]

Während Goethe sich in seinem – teils der Empfindsamkeit, teils dem Sturm und Drang zuzuordnenden – Frühwerk wie dem Götz von Berlichingen oder den Leiden des jungen Werther noch dieser Begrifflichkeit bediente, parodierte er etwas später in seinem Triumph der Empfindsamkeit die Zerrissenheit, obwohl er selbst um sein eigenes, „zerstreutes, ich will nicht sagen zerrissnes Wesen“ wusste. Mit dem Begriff kennzeichneten und bestimmten er und andere Autoren zudem ihre eigene Zeit in Abgrenzung zur idealisierten Antike. Für sie waren die Griechen im Gegensatz zu den Modernen noch nicht „zerstückelt“ und in ihrer „gesunden Menschenkraft“ getrennt.[6]

Für Friedrich Schlegel herrschte in der Antike ein Zusammenhang und noch keine Zerstückelung und Verworrenheit. „Trostlos steht die Lücke vor uns: der Mensch ist zerrissen, die Kunst und das Leben sind getrennt.“[6]

In seinem Bekenntnisbuch Hyperion kulminierte Hölderlins Zeitkritik in einer Klage über die Gegenwart der Deutschen: „Ich kann kein Volk mir denken, daß zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen - ist das nicht wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinanderliegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?“[7] Die seelische Entwicklung des jungen, griechischen Idealisten als Helden des Romans spiegelt Hölderlins Ablehnung der Gegenwart, seine Hoffnung auf seelische Erlösung durch die ideale Liebe zu Diotima, seinen eigenen Wunsch, einen neuen Zustand zu erreichen, in dem Gott, Natur und Mensch wieder vereint sind. Die heroische Tat strebt eine neue Gemeinschaft an, die in der gläubigen Einheit mit der göttlichen Natur besteht.[8]

Vor allem die Romantiker thematisierten die Zerrissenheit und erhofften sich die Befreiung in einen neuen paradiesischen Zustand der Zukunft, in dem das Getrennte sich wieder vereinigen müsse.

Das romantische Doppelgängermotiv spielte im Werk E. T. A. Hoffmanns eine besondere Rolle. Mit der Problematik der zerrissenen Wirklichkeit beschäftigte er sich in einigen Werken. So verschränkte er in den Abentheuern der Sylvester-Nacht verschiedene Erzählperspektiven auf mehreren Erzählebenen. Das Schicksal des Reisenden spiegelt sich einerseits in der Geschichte vom verlorenen Spiegelbild, andererseits in der Zerrissenheit des Künstlers.[9]

Für Heinrich Heine war die eigene Zerrissenheit ein Symbol für die Situation der Zeit.

Vor allem der Deutsche Idealismus befasste sich mit der Zerrissenheit des Menschen und der Welt.

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling etwa machte das mit Descartes begonnene, dualistische Prinzip der Entzweiung für die Zerreißung der Idee verantwortlich und forderte eine neue Philosophie als „Mittel der Heilung für die Zerrissenheit unserer Zeit.“[10]

Die Zerrissenheit war für Hegel das Merkmal der aufklärerischen Vernunftreligion. In ihr würde der Mensch zu einer toten Maschine. Christus hingegen wolle „den Menschen in seiner Ganzheit wiederherstellen“, das „Zerrissensein des Gemüts“ heilen und die „zerrissenen Wesen“ in der Liebe vereinigen, selbst wenn er die Bande zur alten Welt zerreißen musste, um das Reich Gottes zu errichten.[10] Er entwickelte die philosophischen Begriffe mit dem Ziel, „gegen die Zerrüttung des Zeitalters den Menschen aus sich wiederherzustellen, und die Totalität, welche die Zeit zerrissen hat, zu erhalten.“ Hegel kritisierte die Romantik. Sie gefalle sich in Zerrissenheit und innerer Dissonanz. In der Phänomenologie des Geistes beschäftigte er sich mit der Zerrissenheit in der Religion und der Welt der Bildung, in der die Zerrissenheit zum entfremdeten Bewußtsein werde. Diese „Zerrissenheit des Bewußtseins“, das um seinen Zustand weiß, könne am Ende nur in „Hohngelächter über das Dasein“ ausbrechen.[11] Es verkehre die sittlichen Begriffe, weil es den mangelhaften Zustand der Welt erkenne und als „empörtes Selbstbewußtsein“ von seiner „eigenen Zerrissenheit“ wisse, „und in diesem Wissen derselben“ sich „unmittelbar darüber erhoben“ hat.[12]

Die Junghegelianer und Karl Marx folgten Hegel in dieser Richtung, um ihre Religions- und Gesellschaftskritik zu formulieren. Die Religion sei eine „Zerrissenheit des Innern und Entfremdung gegen sich selbst“. Dieser Mangel aber könne nicht durch die Philosophie überwunden werden. Wenn sie als totale Philosophie der zerrissenen Welt gegenübertritt, ist ihre Tätigkeit nach Karl Marx ebenfalls eine zerrissene. Sie ist nur die subjektive Form der objektiven Zerrissenheit der Welt. Das religiöse Bewusstsein sei eine Entfremdung des Menschen von der Welt und gehe zurück auf den Widerspruch des religiösen Bewusstseins selbst, wie er in den Thesen über Feuerbach ausführte. Den Grund für die Zerrissenheit der Wirklichkeit sah Marx im Privateigentum, das den Menschen mit sich selbst in Widerspruch setze.[13] Dieser Widerspruch könne nur durch die äußere Veränderung der Welt überwunden werden.

Einzelnachweise

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  1. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Eintrag Zerrissenheit, Schwabe Verlag, Hamburg, Bd. 12, S. 1305
  2. Walther Killy: Literaturlexikon, Sturm und Drang, Bd. 14, S. 411–412
  3. Herbert A. Frenzel und Elisabeth Frenzel, Daten deutscher Dichtung. Chronologischer Abriss der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1 Von den Anfängen bis zum Jungen Deutschland, Sturm und Drang, S. 201. Köln, 1982
  4. Hermann August Korff, zit. nach Herbert A. und Elisabeth Frenzel: Daten deutscher Dichtung. Köln 1982, S. 201
  5. Killy: Literaturlexikon. S. 411
  6. a b c zit. nach: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Eintrag Zerrissenheit, S. 1305
  7. Friedrich Hölderlin, Hyperion oder der Eremit in Griechenland, S. 262, Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe 1 – 4, Aufbau-Verlag, Berlin, 1995
  8. Herbert A. und Elisabeth Frenzel, Daten deutscher Dichtung, Klassik, Friedrich Hölderlin, Hyperion oder der Eremit in Griechenland, S. 271
  9. Walther Killy, Autoren- und Werklexikon, Hoffmann, E.T.A, Bd. 5, S. 416
  10. a b Historisches Wörterbuch der Philosophie. Eintrag Zerrissenheit, S. 1306
  11. Hegel Phänomenologie des Geistes, Bd. 3, S. 389, Theorie-Werkausgabe von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel in zwanzig Bänden, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1860
  12. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt am Main 1860, Bd. 3, S. 399
  13. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Eintrag Zerrissenheit, S. 1307