Fundamentalsystem (Mathematik)
Als Fundamentalsystem wird in der Analysis jede Basis desjenigen Vektorraums bezeichnet, der aus der Menge der Lösungen eines homogenen linearen gewöhnlichen Differentialgleichungssystems besteht.
Ist ein Fundamentalsystem, so ist definitionsgemäß
die Menge der Lösungen dieses homogenen Differentialgleichungssystems.
Die Kenntnis eines Fundamentalsystems ist Voraussetzung für das Verfahren der Variation der Konstanten, um eine spezielle Lösung von inhomogenen linearen Differentialgleichungssystemen erster Ordnung und inhomogenen linearen Differentialgleichungen höherer Ordnung zu konstruieren.
Fundamentalsystem, (Haupt-)Fundamentalmatrix und Wronski-Determinante
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Homogenes lineares Differentialgleichungssystem erster Ordnung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Gegeben sei ein lineares homogenes Differentialgleichungssystem erster Ordnung
mit und der Matrix , deren Koeffizienten sind. Die Lösungen dieses Differentialgleichungssystems werden in der Differentiationsklasse der stetig differenzierbaren Funktionen gesucht.
Hat diese Differentialgleichung zwei verschiedene Lösungen, so sind auch die Summe und Vielfache mit reellen Faktoren wiederum Lösungen. Die Lösungsmenge ist also ein reeller Untervektorraum im Raum aller stetig differenzierbaren Funktionen.
Sind die Koeffizienten der Matrix stetige Funktionen, so kann der Existenz- und Eindeutigkeitssatz von Picard-Lindelöf angewandt werden. Nach diesem ist einerseits jede Lösung der Differentialgleichung schon eindeutig durch ihren Wert im Anfangspunkt des Intervalls bestimmt und andererseits auch jedes Anfangswertproblem mit beliebigem Anfangswert zu diesem Differentialgleichungssystem eindeutig lösbar. Daraus folgt, dass der Lösungsraum -dimensional ist.
Definitionen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Jede Basis dieses -dimensionalen Lösungsraums wird als Fundamentalsystem des linearen Differentialgleichungssystems bezeichnet. Meistens wählt man als Basis dasjenige System von Lösungsfunktionen , für welche der Anfangswert der -te kanonische Einheitsvektor ist.
Ist ein Fundamentalsystem, so bezeichnet man die Matrix als Fundamentalmatrix und ihre Determinante als Wronski-Determinante. Ist für ein die Einheitsmatrix, so bezeichnet man auch als Hauptfundamentalmatrix im Punkt .
Die Fundamentalmatrix ist ebenfalls Lösung einer homogenen gewöhnlichen (matrixwertigen) Differentialgleichung, nämlich von
Der Lösungsraum des ursprünglichen homogenen Systems im ist dann . Ist sogar Hauptfundamentalmatrix in , so löst das Anfangswertproblem zu .
Die Fundamentalmatrix ist für jedes invertierbar. Für die Wronski-Determinante gilt die liouvillesche Formel.
Homogene lineare Differentialgleichung höherer Ordnung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Genauso wie im Fall erster Ordnung ist der Lösungsraum eines linearen Systems höherer Ordnung ebenfalls ein Vektorraum, und jede Basis desselben wird weiterhin als Fundamentalsystem bezeichnet.
Zur Definition der Fundamentalmatrix einer skalaren linearen Differentialgleichung -ter Ordnung
betrachte man zunächst das hierzu korrespondierende Differentialgleichungssystem erster Ordnung, bestehend aus Gleichungen
- mit
Hinweis: Der Zusammenhang ist, dass die skalare Gleichung -ter Ordnung genau dann löst, wenn Lösung obigen Systems erster Ordnung ist.
Als Fundamentalmatrix von
bezeichnet man jede Fundamentalmatrix des Systems erster Ordnung
Natürlich heißt Hauptfundamentalmatrix in , falls die Einheitsmatrix ist. bezeichnet man weiterhin als Wronski-Determinante.
Obige Reduktion der Gleichung auf ein System erster Ordnung liefert: Ist ein Fundamentalsystem, so ist
eine Fundamentalmatrix.
Konstruktion eines Fundamentalsystems
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im allgemeinen Fall ist es schwierig, Fundamentalsysteme zu konstruieren. Möglich wird dies erst durch eine spezielle Struktur der Differentialgleichung. Dazu gehört die skalare Differentialgleichung erster Ordnung, Differentialgleichungssysteme erster Ordnung mit konstanten Koeffizienten, Differentialgleichungen höherer Ordnung mit konstanten Koeffizienten oder die eulersche Differentialgleichung. Ist eine Lösung der homogenen Differentialgleichung hoher Ordnung bekannt, so kann man das Reduktionsverfahren von d’Alembert verwenden, um die Gleichung auf eine Differentialgleichung mit einer um eins erniedrigten Ordnung zurückzuführen.
Lineare Differentialgleichung erster Ordnung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Es sei eine Stammfunktion von . Dann ist
ein Fundamentalsystem von .
Lineares Differentialgleichungssystem erster Ordnung mit konstanten Koeffizienten
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im Fall einer linearen Differentialgleichung mit konstanten Koeffizienten
bestimmt man zunächst die Jordan-Normalform der Matrix sowie eine dazugehörige Jordan-Basis . Ist ein komplexer Eigenwert mit zugehörigen Basisvektoren , so möge man in der Jordan-Basis die Basisvektoren so wählen, dass als Basisvektoren zu vorkommen.
Nun geht man jede Kette von Hauptvektoren einzeln durch: Ist eine (vollständige) Hauptvektorkette zum Eigenwert , d. h.
- ,
so tragen sie zum Fundamentalsystem die (Hauptvektor-)Lösungen
allgemein
bei. Nachdem man alle Hauptvektorketten durchgegangen ist, hat man dann ein (ggf. komplexes) Fundamentalsystem aufgestellt.
Lineare Differentialgleichung höherer Ordnung mit konstanten Koeffizienten
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Ein Fundamentalsystem für eine skalare linearen Differentialgleichung -ter Ordnung mit konstanten Koeffizienten
kann durch Lösen der charakteristischen Gleichung mit dem charakteristischen Polynom
erfolgen. Seien die (paarweise verschiedenen) Nullstellen von mit Vielfachheiten . Dann trägt die Nullstelle zum (komplexen) Fundamentalsystem die linear unabhängigen Lösungen
bei.
[Zur Erläuterung der Sprechweise: Führt man mit Hilfe der obigen Transformation die skalare Gleichung -ter Ordnung auf ein Differentialgleichungssystem erster Ordnung zurück, so hat die Koeffizientenmatrix als charakteristisches Polynom genau dieses, welches hier angegeben wurde.]
Reelles Fundamentalsystem
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Auf obige Weise erhält man stets linear unabhängige Lösungen, welche aber teilweise komplexwertig sein können – die komplexen Lösungen kommen jedoch immer in konjugiert komplexen Paaren vor, da die Differentialgleichung reell war. Nun sind mit auch und beides (reelle) Lösungen, da die Differentialgleichung linear ist. Man kann daher jedes Paar komplex konjugierter Lösungen im (komplexen) Fundamentalsystem durch reelle Lösungen ersetzen. Auf diese Weise erhält man ein reelles Fundamentalsystem. Man beachte hierbei die Eulersche Formel .
Periodisches Differentialgleichungssystem erster Ordnung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Für das System
mit -periodischer stetiger Koeffizientenmatrix kann man zwar nicht explizit ein Fundamentalsystem konstruieren – jedoch macht der Satz von Floquet eine Aussage über die Struktur der Fundamentalmatrizen dieses Systems.
Beispiele
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Lineares Differentialgleichungssystem erster Ordnung mit konstanten Koeffizienten
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Man betrachte das Differentialgleichungssystem
Die Matrix besitzt 1 als einfachen Eigenwert und 2 als doppelten Eigenwert. Ihre Eigenräume lauten Für die Hauptvektorkette zum Eigenwert 2 benötigt man noch
Wähle beispielsweise
Dann muss als Hauptvektor erster Stufe gewählt werden. Es ergibt sich als Fundamentalsystem mit
Lineare Differentialgleichung höherer Ordnung mit konstanten Koeffizienten
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Betrachte nun
Diese Differentialgleichung hat als charakteristisches Polynom , welches die vier Nullstellen besitzt. Daher erhält man zunächst als komplexes Fundamentalsystem
Somit erhält man als ein reelles Fundamentalsystem
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Carmen Chicone: Ordinary Differential Equations with Applications. 2. Auflage. In: Texts in Applied Mathematics, 34. Springer-Verlag, 2006, ISBN 0-387-30769-9.
- Harro Heuser: Gewöhnliche Differentialgleichungen. Teubner, 1995, S. 250.
- Gerald Teschl: Ordinary Differential Equations and Dynamical Systems (= Graduate Studies in Mathematics. Band 140). American Mathematical Society, Providence 2012, ISBN 978-0-8218-8328-0 (mat.univie.ac.at).