Im Tal der donnernden Hufe

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Im Tal der donnernden Hufe ist eine Erzählung von Heinrich Böll, die im März 1957 in der Insel-Bücherei des Insel Verlags in Wiesbaden erschien.[1] Zuvor war das kleine poetische Werk bereits auszugsweise mehrfach vorabgedruckt worden – zum Beispiel am 14. März 1957 in der F.A.Z.[2]

Die junge Liebe der Nachbarskinder Paul und Katharina ist nicht glücklich.

In dem Winzerstädtchen Zischbrunn[3] geht Käte hinab an den Rhein, um sich bei der Regatta ein klein wenig zu vergnügen. Sie hat ihre Tochter Katharina Mirzow aus guten Gründen in die Wohnung eingesperrt. Die Zischbrunner können Schönheit schlecht vertragen. Vor dreihundert Jahren hätten diese Bürger höchstwahrscheinlich so eine natürliche Jugendliche als Hexe verbrannt. Käte will also auf dem Volksfest anzügliche Zurufe von vornherein unterbinden. Und zweitens muss Katharina mit dem Abendzug nach Wien. Dort soll sie längere Zeit – vermutlich bei ihrem Vater[4] – bleiben. Zwar sagen die Leute, Käte sei „ein echtes Zischbrunner Mädchen geblieben“[5], doch an der Mutter haftet – aus Zischbrunner Sicht – ein Makel: Katharinas Vater, der Moskauer Mirzow, ist ein Roter.

Katharina hat daheim den Koffer längst gepackt. Aus Langeweile schaut sie am offenen Fenster durchs Fernglas und beobachtet zufällig Paul, wie der die Abwesenheit seiner Familie ausnutzt und die Pistole des Vaters entwendet. Als Paul sein Vaterhaus verlässt, bittet ihn das vereinsamte Mädchen zum Abschied nach oben. Paul steigt ein. Die beiden wiederholen das Spiel, das bereits vor vielen Monaten Pauls Mutter so sehr missbilligte. Auf Verlangen zeigt Katharina dem Jungen ihre Brust. Der vierzehnjährige Katholik schätzt ein, für ein Verhältnis mit einer Frau ist er noch zu grün, bittet Katharina aber, einmal aus Wien wiederzukommen. Das Mädchen verspricht es. Das junge Paar verabschiedet sich. Paul zieht mit der Pistole davon.

Sein Freund Griff erwartet Paul. Beide Jungen sind des Lebens überdrüssig. Paul spielt mit dem Gedanken, sich zu erschießen. Dann schießen die Jungen zum Glück doch nur auf Gegenstände. Paul wird vom Polizisten der Obhut des Vaters – zu Kriegszeiten „Divisionsmeister im Pistolenreinigen“ – übergeben.

Katharina zu Paul: Schade, dass du so katholisch bist[6].

Der Titel bezieht sich nicht direkt auf die Handlung. Der Poet Böll spricht im Titel die Diskrepanz zwischen pubertärer Träumerei und rauer Wirklichkeit an. Paul und Griff wollen gar zu gern einen Blick in das Tal der donnernden Hufe werfen. Aber Paul hat nur einmal ein einziges schlecht beschlagenes Pferd zu Gesicht bekommen[7].

  • Katharina ist im Rheinland eine Fremde. Böll benutze das „Russenmotiv“ zur „Darstellung einer Entfremdung“[8].
  • Rothe bemerkt sehr zutreffend, die Erzählung sei kein Western[9].
  • Balzer ordnet die Erzählung den „psychologisch ‚richtigsten‘ Arbeiten“[10] des Autors zu.
  • Barner lobt auch in hohen Tönen. Er zählt das kleine Werk zu den „schönsten Initiationsgeschichten unserer Literatur überhaupt“[11].

Alljährlich findet in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre die Regatta in dem kleinen Winzerstädtchen Zischbrunn am Ufer des Rheins statt. Ein heißer Sommertag. Paul, vierzehn Jahre alt, quält sich mit seiner Pubertät. Aufgewachsen in einem einengenden katholischen Leben, bleiben ihm für seine entstehenden neuen Gefühle keine Möglichkeiten der Erprobung. Sein immer wieder bedrängendes Gefühl nach Nähe und Begehren muss stets kontrolliert werden, denn diesem nachzugeben, würde eine Todsünde bedeuten. Er fürchtet die Strafe Gottes, will sich auch aber auch nicht reuig und schuldig bekennen, um in persönlicher Beichte die Vergebung und die Gnade Gottes zu erlangen. Er spürt in einer natürlichen Weise, dass die ihn neu erfüllenden Empfindungen sich nicht gegen allgemeine Sitte und Ordnung wenden, obgleich ihn die Spannungen zwischen triebhaften Empfindungen und moralischen Erwartungen oft in existenzielle Verzweiflung drängen. Die Begegnung mit dem Mädchen Katharina aus der Nachbarschaft, in seinem Alter, aber beinahe schon eine Frau und deshalb im Ort verrufen, hilft ihm zu einer Neuorientierung seiner Wertvorstellungen und macht ihm Hoffnung auf eine erfüllte Zukunft.

Einfühlsam beschreibt Heinrich Böll in seiner Erzählung die seelischen Nöte eines jungen Menschen in der Pubertät, der in einer scheinheiligen katholischen Kleinstadt aufwächst und alle Körperlichkeit und aufkeimende Sexualität verleugnen und unterdrücken muss, um nicht mit seinem Gewissen und den moralischen Ansprüchen seiner Mitmenschen in Konflikt zu geraten.

In einer Identifikation mit den Hauptfiguren der Erzählung werden bei den Lesern eigene Erfahrungen und emotionale Erlebnisse aktiviert und führen zu einer intensiven Wahrnehmung der Geschehnisse in der geschilderten Welt. Dadurch wird die sinnenvolle szenische Ausgestaltung der Erzählung plastisch vorstellbar. Die einschränkende Beeinflussung des alltäglichen Lebens durch die praktizierte Religion in einem kleinen deutschen Dorf wird unmittelbar an den Protagonisten erlebbar. Die entstehenden Spannungen zwischen den sich entfaltenden natürlichen triebhaften Bedürfnissen und den gleichzeitig das Seelenheil bedrohenden verinnerlichten religiösen und gesellschaftlichen Gesetzen lässt den Leser die eigenen erlebten Zwiespältigkeiten seiner persönlichen Entwicklungszeit wiedererleben. Eine Betroffenheit entsteht.

Die geschilderten zeitgeschichtlichen und kulturellen Bedingungen bieten sich zu einem Vergleich zu anderen Lebensumständen an und auch gleichzeitig zu der Erforschung der Ähnlichkeiten und Parallelen.

Unter diesem Aspekt ist die psychologisch so richtige Erzählung Bölls in besonderer Weise geeignet, eine interkulturelle Diskussion anzuregen. Wie wird ein Kind wann und wo zum Erwachsenen? Welche Lösungs- und Ablösungsprozesse muss es bei den unterschiedlichen kulturellen Bedingungen in der sozialgeschichtlich wichtigsten Initiation erfolgreich durchlaufen?

Was lässt letztlich den Jugendlichen aus seiner Reifezeit erfolgreich hervorgehen?

Heinrich Böll findet in unerwarteter Weise die Erlösung aus der Verstrickung der emotionalen Widersprüchlichkeiten im religiösen Kontext selbst. Hier verstricken sich nicht nur die geschilderten Konflikte und Probleme, nicht nur das Aufeinandertreffen von Trieben und Kontrollen, sondern auch das „himmlische Jerusalem“. Eine Vision, bei der nach dem Endkampf zwischen Gott und dem Teufel letztlich Gott als der Sieger hervorgeht und Erde und Himmel erneuert werden: ein neues Jerusalem geboren wird. Da lohnt es sich für Paul zu leben und auf seine Mirzowa zu warten. Sein Leben erhält einen Sinn, es wird lebenswert. (Hans-Werner Gessmann)[12]

Quelle
Erstausgabe
  • Heinrich Böll: Im Tal der donnernden Hufe. Insel Verlag Wiesbaden 1957, 63 Seiten. Insel-Bücherei Nr. 647/1[2]
Ausgaben
  • Heinrich Böll: Als der Krieg ausbrach. Erzählungen. S. 140–187. dtv München, November 1965 (23. Aufl. Oktober 1990) 261 Seiten, ISBN 3-423-00339-1
  • Heinrich Böll: Im Tal der donnernden Hufe. Mit Materialien. Klett Stuttgart 1986, ISBN 978-3-12-260570-4
Sekundärliteratur
  • Bernd Balzer: Anarchie und Zärtlichkeit. S. [11] bis [187] in: Heinrich Böll Werke. Romane und Erzählungen 1. 1947–1952. Kiepenheuer & Witsch Köln 1977 (ergänzte Neuaufl. 1987, 877 Seiten), ISBN 3-462-01871-X
  • Klaus Schröter: Heinrich Böll. Rowohlt, Reinbek, November 1982 (5. Aufl. April 1992) 157 Seiten, ISBN 3-499-50310-7
  • Arnold Rothe: Der literarische Titel. Funktionen, Formen, Geschichte Vittorio Klostermann Frankfurt a. M. 1986. (Das Abendland – Neue Folge 16, 479 Seiten), ISBN 3-465-01693-9
  • Manfred Jurgensen: „Die Poesie des Augenblicks“. Die Kurzgeschichten S. 43–60. In: Bernd Balzer (Hrsg.): Heinrich Böll 1917–1985 zum 75. Geburtstag. Peter Lang AG Bern 1992. 354 Seiten, ISBN 3-906750-26-4
  • Wilfried Barner (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur. Band 12: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. Beck, München 1994 (1116 Seiten), ISBN 3-406-38660-1
  • Werner Bellmann (Hrsg.): Das Werk Heinrich Bölls. Bibliographie mit Studien zum Frühwerk. Westdeutscher Verlag Opladen 1995, 292 Seiten, ISBN 3-531-12694-6
  • Gero von Wilpert: Lexikon der Weltliteratur. Deutsche Autoren A–Z. S. 68 (698 Seiten). Stuttgart 2004, ISBN 3-520-83704-8
  • Curt Hohoff: Die roten Fliesen im „Tal der donnernden Hufe“. In: In Sachen Böll. Ansichten und Einsichten. Hrsg. von Marcel Reich-Ranicki. dtv, München, 8. Aufl. 1985. (dtv 730.) S. 192–198.
  • Jörn Stückrath: Im Tal der donnernden Hufe. In: Heinrich Böll. Romane und Erzählungen. Interpretationen. Hrsg. von Werner Bellmann. Reclam, Stuttgart 2000. S. 161–178.

Einzelnachweise

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  1. Quelle, S. 1174
  2. a b Bellmann, S. 145
  3. Böll hat den Namen erfunden. Es gibt nur Bischbrunn am Main
  4. Quelle, S. 851, 9. Z.v.u. - 2. Z.v.u.
  5. Quelle, S. 850, 11. Z.v.u.
  6. Quelle, S. 843, 10. Z.v.u.
  7. Jurgensen, S. 50 Mitte
  8. Schröter, S. 92 oben
  9. Rothe, S. 403
  10. Quelle, S. [70], 3. Z.v.u.
  11. Barner, S. 378, 8. Z.v.u.
  12. Gessmann, H.-W.: Hinführende Aspekte zu Heinrich Bölls Erzählung „Im Tal der donnernden Hufe“. In: Schibaewa, Natalia. Erarbeitung des Werkes im Deutschunterricht, Staatliche Nekrassow Universität Kostroma, 2012, S. 59