Nicht nur zur Weihnachtszeit

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Nicht nur zur Weihnachtszeit ist eine Erzählung von Heinrich Böll, die der Autor während der Zusammenkunft der Gruppe 47 auf Schloss Berlepsch Anfang November 1952 las. Sie gilt als erste Satire des Schriftstellers. Bereits im darauf folgenden Monat wurde die kleine Erzählung von Alfred Andersch herausgegeben.[1][2] Nach Sendung der Hörfunkfassung noch im selben Jahr warf Pfarrer Hans-Werner von Meyenn dem Autor Böll „Verunglimpfung des deutschen Gemüts“ vor.[3]

Der Ich-Erzähler exemplifiziert den Ernstfall: Was wäre, wenn jeden Abend Weihnachten wäre? unter Bezug auf die ausgebliebene Aufarbeitung der NS-Zeit speziell im Katholizismus.

Es geht um „Verfallserscheinungen“ in der Verwandtschaft des Ich-Erzählers. Diese nehmen ihren Lauf um Lichtmess 1947 herum, als sich die Tante Milla des Erzählers nicht von ihrem Christbaum trennen will und unausgesetzt schreit, als das Requisit abgeschmückt wird und aus dem Wohnzimmer entfernt werden soll. Nachdem Mediziner ohne Erfolg zu Rate gezogen worden sind, findet endlich Onkel Franz, Gatte der Tante, die Lösung. Onkel Franz verordnet der Tante Milla mit nachhaltigem Erfolg eine „Tannenbaumtherapie“. Es wird nun praktisch über zwei Jahre hinweg jeden Abend – also Winter wie Sommer – Heiligabend gefeiert mit allem Drum und Dran, also mit dem Baum, einem täglich „Frieden, Frieden, Frieden“ flüsternden Weihnachtsengel usw.

Die verkehrte dramatische Situation: Die alte schrullige Tante Milla geht als einzige in der Verwandtschaft unbeschädigt – abgesehen von ihrem Weihnachtsfimmel – aus der Dauerweihnacht hervor. Äußerlich gesund und munter aussehend, feiert sie mit dem pensionierten Geistlichen aus der Nachbarschaft und den später eigens engagierten Mimen.

Kurz zum Verlauf der Feier: Zuerst werden nach Monaten die Erwachsenen des Spekulatiusknabberns überdrüssig. Die o. g. Verfallserscheinungen äußern sich in unterschiedlicher Form. Fremdgehen, Tobsuchtsanfall, Auswanderung ganzer Familienteile in das äquatoriale Afrika und sogar Konversion vom Katholizismus zum Kommunismus kommen vor. Mit der Zeit lassen sich die Verwandten des Abends einer nach dem anderen bei Tante Milla durch arbeitslose Schauspieler vertreten. Ein erwerbsloser Inspizient bringt zuletzt die Abendveranstaltung monatelang klaglos über die Bühne. Schließlich müssen die Kinder durch Wachspuppen ersetzt werden. Jener Verfall ist unaufhaltsam. Zuletzt wird Onkel Franz nach dem Fremdgehen auch noch lebensmüde, und ein Vetter des Erzählers, Boxer von Beruf, geht als Laienbruder in ein Kloster.[4]

Der Erzähler, nachdem er seinen Schwager als einzigen Verwandten unter den Schauspielern im weihnachtlichen Kreis der Tante Milla mit einiger Mühe identifiziert hat: „Es scheint doch unverwechselbare Züge der Individualität zu geben“.[5]

  • Der Spiegel, 24. Dezember 1952: Bölls „verewigte Weihnachtsfeier ist unverkennbar Gleichnis unseres Kulturbetriebes, der eine Zeit, von der – wie der Autor sagt – ‚ich angenommen hatte, sie sei vorbei‘, mit allen Finessen in scheinhafter Dauer zu restaurieren sucht […].“[6]
  • Gerber geht ganz kurz auch auf den „hysterischen Komplex“ der Tante Milla und seine psychologische Besprechung nach Art von Adler ein. Böll soll seine Erzählung besonders geschätzt haben.[7]
  • Sowinski und Schneidewind heben in ihrer ausführlichen Besprechung „den grotesken dichterischen Einfall“ hervor.[8]
  • Bernsmeier analysiert die „Tortur der Feierlichkeiten“.[9]

Hörfunk und Verfilmung

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Bereits am 30. Dezember 1952, also nach der Zelebrierung des Weihnachtsfestes, brachte der damalige NWDR unter der Regie von Fritz Schröder-Jahn die Hörfunkfassung von Alfred Andersch mit Heinz Rühmann als Sprecher, Reinhold Lütjohann als Onkel Franz und Thea Maria Lenz als Tante Milla.[10] Angeprangert werden soll, so der einführende Text, der „Falschmünzcharakter einer restaurativen Epoche.“

Vojtěch Jasný verfilmte die Satire unter dem Originaltitel mit Edith Heerdegen als Tante Milla und René Deltgen als Onkel Franz für das Fernsehen. Heinrich Böll schrieb das Drehbuch. Das ZDF strahlte den Film am 30. Dezember 1970 aus.[11]

Quelle
  • Heinrich Böll: Nicht nur zur Weihnachtszeit. In: Heinrich Böll Werke. Romane und Erzählungen 1. 1947–1952. Herausgegeben von Bernd Balzer. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1977 (ergänzte Neuauflage 1987), ISBN 3-462-01871-X, S. 810–838
Erstausgabe
Ausgaben
  • Heinrich Böll: Nicht nur zur Weihnachtszeit. Kiepenheuer & Witsch, Köln / Berlin 1955, OCLC 73267014. [Ausgabe mit einem von Böll überarbeiteten Text.]
  • Heinrich Böll: Nicht nur zur Weihnachtszeit. Erzählungen. dtv 11591, München 1998, ISBN 978-3-423-11591-9
  • Franz-Josef Antwerpes: Heinrich Böll: Nicht nur zur Weihnachtszeit. Audio-CD, 70 Min. Hörbuchverlag, Hamburg 2000, ISBN 978-3-423-11591-9
  • Heinrich Böll: Werke (Kölner Ausgabe). Band 6, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007, ISBN 978-3-462-03280-2
  • Heinrich Böll: Nicht nur zur Weihnachtszeit: Das Adventskalenderbuch. Edition Büchergilde, Frankfurt am Main 2013, ISBN 978-3-86406-032-8
Forschungsliteratur
  • Harald Gerber: Erläuterungen zu Heinrich Böll. Kurzgeschichten, Erzählungen, Romane. Teil II. Restauration und Wohlstandsgesellschaft. C. Bange, Hollfeld (Oberfranken). 1988, ISBN 3-8044-0363-8, S. 11–19
  • Bernhard Sowinski, Wolf Egmar Schneidewind: Heinrich Böll. Satirische Erzählungen. Oldenbourg, München 1988, ISBN 3-486-88600-2, S. 15–34
  • Werner Bellmann (Hrsg.): Das Werk Heinrich Bölls. Bibliographie mit Studien zum Frühwerk. Westdeutscher Verlag, Opladen 1995, ISBN 3-531-12694-6
  • Helmut Bernsmeier: Heinrich Böll. Reclam, Stuttgart 1997, ISBN 3-15-015211-9, S. 70–78
  • Gero von Wilpert: Lexikon der Weltliteratur. Deutsche Autoren A-Z. Kröner, Stuttgart 2004, ISBN 3-520-83704-8, S. 68
  • Werner Bellmann: Zu Heinrich Bölls Satire "Nicht nur zur Weihnachtszeit". Daten, Fakten, Hintergründe. In: Wirkendes Wort, Deutsche Sprache und Literatur in Forschung und Lehre 66 (2016) Heft 1, S. 53–65. ISSN 0935-879X,
  • Robert C. Conard: Heinrich Böll's „Nicht nur zur Weihnachtszeit“: A Satire for all Ages. In: The Germanic Review. Band 59, 1984, Heft 3, S. 97–103.
  • Norbert Feinäugle: Heinrich Böll: „Nicht nur zur Weihnachtszeit“. In: Literatur im Unterricht. Modelle zu erzählerischen und dramatischen Texten in der Sekundarstufe I und II. Hrsg. von Gerhard Haas. Reclam, Stuttgart 1982, S. 156–175, ISBN 3-15-010309-6.
  • Erhard Friedrichsmeyer: „Nicht nur zur Weihnachtszeit“. In: Heinrich Böll. Romane und Erzählungen. Interpretationen. Hrsg. von Werner Bellmann. Reclam, Stuttgart 2000, S. 70–81, ISBN 3-15-017514-3.
  • Heinrich Moling: Heinrich Böll: eine „christliche“ Position. Juris, Zürich 1974, ISBN 3-260-03600-8 (Dissertation Universität Zürich 1974, 306 Seiten).
  • Fernando Grasso: Die Rolle der Religion bei Heinrich Böll dargestellt anhand seiner Erfahrungen und Äußerungen von seiner Jugend an bis in die achtziger Jahre und anhand einiger seiner Gestalten und Themen der Fünfziger und Sechziger Jahre. Kempten 1991, Dissertation (Tesi di Laura) an der Libera Università di Lingue e Comunicazione, Facoltà di Lingue e Letterature Straniere, I.U.L.M. Istituto Universitario di Lingue Moderne, Milano 1989, 296 Seiten (Volltext online PDF, kostenfrei, 296 Seiten, 939 kB, deutsch).

Einzelnachweise

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  1. Quelle, S. 877
  2. a b Bellmann, S. 134
  3. Bernsmeier, S. 76, 19. Z.v.o.
  4. Quelle, S. 838
  5. Quelle, S. 836, 14. Z.v.o.
  6. Zitiert nach Bellmann, 2016, S. 63; ebd. S. 61 und 63 weiterführende Hinweise zur Verwendung des Begriffs "Existenzialismus" sowie des Namens "Söderbaum" für den Tannenbaum-Frischdienst.
  7. Gerber, S. 16, 18
  8. Sowinski, Schneidewind, S. 24
  9. Bernsmeier, S. 72
  10. Sowinski, Schneidewind, S. 15
  11. Weblink IMDb