Kommunalwahl in der Türkei 2014
Bei der Kommunalwahl in der Türkei 2014 (türkisch 2014 Mahallî İdareler Genel Seçimleri) wurden am 30. März 2014 die örtlichen Regierungen, Stadträte und Bürgermeister gewählt. Die regierende AKP gewann die Wahl unter Manipulationsvorwürfen – gemäß der OSZE bestanden erhebliche Zweifel an der Einhaltung demokratischer Standards.[1]
Hintergrund
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Es waren die 15. Kommunalwahlen in der Geschichte der Republik Türkei; die ersten demokratischen Mehrparteienwahlen fanden unter dem Staatsgründer Mustafa Kemal Pascha (Atatürk) mit den Kommunalwahlen 1930 statt. Die 14. Kommunalwahlen fanden am 29. März 2009 statt.
Die Wahlen sollten durch einen gemeinsamen Beschluss der islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) auf den 27. Oktober 2013 vorgezogen werden, um so einen in den Wintermonaten erschwerten Wahlkampf zu vermeiden. Die kemalistisch-sozialdemokratische Republikanische Volkspartei (CHP) war mehrheitlich gegen diese Entscheidung mit der Begründung, dass der 26., der 27. und der 29. Oktober wichtige Feiertage im Zusammenhang mit der Gründung der Republik Türkei seien. Sie schlug vor, die Wahlen am 3. November 2013 abzuhalten.[2] Mangels einer rechtzeitig vor dem Wahltermin zustande gekommenen Einigung fanden die Kommunalwahlen wie ursprünglich geplant am 30. März 2014 statt.
Der Wahlkampf war geprägt von Demonstrationen seit 2013 (ausgehend von Gezi-Park und Taksim-Platz in Istanbul), seit Dezember von einem Korruptionsskandal und dem Versuch Erdoğans, die Pressefreiheit in der Türkei weiter einzuschränken. Auf der Basis des „Gesetz Nummer 5651“ vom 23. November 2007[3][4] wurden mehrere tausend Internetseiten blockiert (jeweils mit gerichtlicher Zustimmung).[5] Erdoğan hat in der Türkei die Privatschulen von Fethullah Gülen schließen lassen, was zudem auf sehr starke Gegenwehr der Gülen-Bewegung stieß. Auch nachlassende Konjunktur, der gefallene Kurs der Türkischen Lira und eine Kapitalflucht prägten die politische Situation.[6]
Stimmabgabe
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Insgesamt waren 52.695.832 Bürger aufgefordert, wählen zu gehen. Davon machten die Frauen 26.704.757 Stimmen aus, während die Männer 25.991.075 Wähler stellten.
Wahlberechtigte, die in einer Großstadt wohnen, hatten vier Stimmen:
- Oberbürgermeister
- Stadtteilbürgermeister
- Stadtrat
- Muhtar
Wahlberechtigte, die in einer Stadt wohnen, hatten vier Stimmen:
- Bürgermeister
- Stadtrat
- Provinzparlament
- Muhtar
Wahlberechtigte, die in einem Dorf wohnen, hatten zwei Stimmen:
- Provinzparlament
- Muhtar
Ergebnis
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Gesamtergebnis
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]An der Wahl nahmen 26 Parteien nebst unabhängiger Kandidaten teil:
Urnen | Stimmabgabe | gültige Stimmen |
Prozent Wahlbeteiligung |
Wahlberechtigte |
---|---|---|---|---|
194.310 | 46.924.877 | 44.866.446 | 89,19 | 52.695.832 |
Provinzparlamente
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Es wurden die 1251 Mitglieder der 81 Provinzparlamente gewählt. Neben den 26 Parteien traten noch 74 unabhängige Kandidaten an.
Art | Zahl |
---|---|
Wahlurnen | 50.601 |
Wahlberechtigte | 11.904.853 |
Abgegebene Stimmen | 10.552.213 |
Davon gültig | 10.175.026 |
Wahlbeteiligung | 88,64 % |
Die gewonnenen Sitze pro Partei waren im Einzelnen:
Partei | Sitze |
---|---|
AKP | 779 |
MHP | 174 |
CHP | 159 |
BDP | 128 |
SP | 5 |
BBP | 4 |
HDP | 1 |
TKP | 1 |
Bürgermeister der Provinzhauptstädte und Landkreisbürgermeister
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Insgesamt standen 1351 Bürgermeisterämter zu Wahl. Dazu zählen die Bürgermeister der Provinzhauptstädte, die Landkreisbürgermeister, die Stadtteilbürgermeister in den Großstadtkommunen und allen anderen Orten mit mehr als 5000 Einwohnern.
Art | Zahl |
---|---|
Wahlurnen | 172.328 |
Wahlberechtigte | 48.724.241 |
Abgegebene Stimmen | 43.459.938 |
Davon gültig | 41.619.798 |
Wahlbeteiligung | 89,20 % |
Die gewonnenen Ämter pro Partei waren im Einzelnen:
Partei | Bürgermeister |
---|---|
AKP | 800 |
CHP | 226 |
MHP | 166 |
BDP | 97 |
SP | 27 |
DP | 14 |
BBP | 6 |
DSP | 5 |
HAK-PAR | 1 |
LDP | 1 |
MP | 1 |
ÖDP | 1 |
TKP | 1 |
Unabh. | 5 |
Mitglieder der Stadträte
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]20.498 Posten in den Stadträten waren zu vergeben. Neben den Parteien traten auch 180 parteilose Kandidaten an.
Art | Zahl |
---|---|
Wahlurnen | 172.749 |
Wahlberechtigte | 48.843.157 |
Abgegebene Stimmen | 43.543.717 |
Davon gültig | 41.527.387 |
Wahlbeteiligung | 89,15 % |
Die gewonnenen Sitze pro Partei waren im Einzelnen:
Partei | Bürgermeister |
---|---|
AKP | 10.530 |
CHP | 4.161 |
MHP | 3.501 |
BDP | 1.432 |
SP | 411 |
BBP | 165 |
DP | 164 |
DSP | 66 |
LDP | 12 |
HDP | 9 |
BTP | 8 |
HAK-PAR | 6 |
HÜDA-PAR | 6 |
MP | 6 |
TKP | 6 |
İP | 4 |
ÖDP | 4 |
EMEP | 2 |
Unabh. | 5 |
Oberbürgermeister der Großstädte
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In der Türkei gibt es 30 Großstädte. Neben der Wahl eines Bürgermeisters für die einzelnen Stadtteile wurde ein Oberbürgermeister gewählt. Neben den Parteien stellten sich insgesamt auch 55 unabhängige Kandidaten zur Wahl. Insgesamt waren 40.727.194 Menschen zur Wahl eines Oberbürgermeisters aufgerufen. An den 143.076 Wahlurnen wurden bei einer Wahlbeteiligung von 89,48 % 34.913.716 gültige Stimmen abgegeben. Die AKP gewann 18 Großstädte, gefolgt von der CHP mit 6, der MHP mit 3, der BDP mit 2 und einem unabhängigen Sieger.[7]
Stadt | Oberbürgermeister | Partei |
---|---|---|
Adana | Hüseyin Sözlü | MHP |
Ankara | Melih Gökçek | AKP |
Antalya | Menderes Türel | AKP |
Aydın | Özlem Çerçioğlu | CHP |
Balıkesir | Ahmet Edip Uğur | AKP |
Bursa | Recep Altepe | AKP |
Denizli | Osman Zolan | AKP |
Diyarbakır | Gültan Kışanak | BDP |
Erzurum | Mehmet Sekmen | AKP |
Eskişehir | Yılmaz Büyükerşen | CHP |
Gaziantep | Fatma Şahin | AKP |
Istanbul | Kadir Topbaş | AKP |
Izmir | Aziz Kocaoğlu | CHP |
Hatay | Lütfü Savaş | CHP |
Kahramanmaraş | Fatih Mehmet Erkoç | AKP |
Kayseri | Mehmet Özhaseki | AKP |
Kocaeli | İbrahim Karaosmanoğlu | AKP |
Konya | Tahir Akyürek | AKP |
Malatya | Ahmet Çakır | AKP |
Manisa | Cengiz Ergün | MHP |
Mardin | Ahmet Türk | |
Mersin | Burhanettin Kocamaz | MHP |
Muğla | Osman Gürün | CHP |
Ordu | Enver Yılmaz | AKP |
Sakarya | Zeki Tocoğlu | AKP |
Samsun | Yusuf Ziya Yılmaz | AKP |
Şanlıurfa | Celalettin Güvenc | AKP |
Tekirdağ | Kadir Albayrak | CHP |
Trabzon | Orhan Fevzi Gümrükçüoğlu | AKP |
Van | Bekir Kaya | BDP |
Kontroversen und Einsprüche gegen die Wahlergebnisse
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Bei der Auszählung der Stimmen kam es zu mehreren Unregelmäßigkeiten. So wurden in der Provinz Osmaniye Stimmzettel für CHP und MHP im Müll entdeckt. Deren Kandidaten beschwerten sich bei der obersten Wahlkommission und reichten Anzeige bei der Staatsanwaltschaft ein.[8] Die Herausforderer in Istanbul[9] und Ankara verlangten eine Neuauszählung der Stimmen.
Der Hohe Wahlausschuss annullierte die Wahlen in Güroymak (Provinz Bitlis) und Serinova (Provinz Muş). Ebenfalls annulliert wurde die Wahl in der Provinzhauptstadt Ağrı, wo der Kandidat der BDP Sırrı Sakık nur 10 Stimmen Vorsprung hatte.[10][11] Mitte April entschied der Wahlausschuss auch in Mahmudiye in der Provinz Eskişehir die Wahlen zu wiederholen. Hier hatte der Kandidat der CHP knapp mit elf Stimmen Vorsprung gewonnen.[12] Insgesamt wurden die Wahlen in zwei Provinzhauptstädten (Ağrı, Yalova), sieben Kreisstädten (İlçe merkezi) und fünf Gemeinden (Belde) am 1. Juni 2014 wiederholt.
Eine Needs Assessment Mission (NAM) der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ist zur Feststellung gekommen, dass „erhebliche Zweifel an der Einhaltung demokratischer Standards bestehen“. Aufgrund der Erfahrungen bei diesen Kommunalwahlen will die OSZE künftig Wahlbeobachter in die Türkei entsenden, erstmals bei der Präsidentschaftswahl 2014.[1]
Trivia
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Für die Stadt Bulancak bei Giresun hat sich mit Can Çavuşoğlu erstmals ein offen schwul Lebender als Bürgermeisterkandidat aufgestellt.[13]
- Die rechtsextreme Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) stellte im Istanbuler Stadtteil Bakırköy mit Nerses Yeramyan und Elmas Giragos zwei christliche Armenier auf.[14]
- Der jüdischstämmige Aydın Rozental wurde von der Liberaldemokratischen Partei als Kandidat für den Oberbürgermeister von Istanbul aufgestellt.
- Der Neffe des islamistischen Politikers Necmettin Erbakan, Sabri Erbakan, stellte sich in Fatih für die kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP) zur Wahl.
- Die Sommerzeituhrenumstellung wurde extra für die Kommunalwahl auf einen Tag später verlegt, d. h. die Uhren wurden in der Nacht vom Sonntag, dem 30. März auf Montag, den 31. März umgestellt, um Verwirrungen zu vermeiden, falls man die Umstellung verpassen würde.[15]
- Die Kommunistische Partei der Türkei (TKP) stellt in Ovacık in der alevitisch geprägten Provinz Tunceli zukünftig den ersten offen als Kommunisten auftretenden Bürgermeister in der Geschichte des Landes.[16]
- Der einzige (aufgrund eines „politischen Betätigungsverbotes“) unabhängige Kandidat und Sieger einer Provinzhauptstadt ist Ahmet Türk in Mardin.[17]
- In der Stadt Cizre gewann mit Leyla Îmret (BDP) eine 26-jährige Friseurin aus Bremen, die in Cizre geboren wurde und seit ihrem siebten Lebensjahr in Deutschland aufwuchs.
- Der dem AKP-Kandidaten knapp unterlegene Kandidat der Saadet Partisi für die Stadt Tillo Behmen Aydın wurde am Tag nach der Wahl vor seinem Haus erschossen.[18]
- Bei dieser Wahl traten insgesamt 26 Abgeordnete des Parlaments zur Wahl eines Bürgermeisteramtes auf. Die erfolgreichen Kandidaten mussten sich 15 Tage nach Veröffentlichung des amtlichen Wahlergebnisses zwischen den Ämtern als Abgeordneter oder Bürgermeister entscheiden.[19]
- Die BDP übertrug das System der Parteidoppelspitze auch auf ihre Bürgermeister (Başkan) und stellte jedem einen gleichrangigen Assistenten (tr: Eşbaşkan) zur Seite. So steht der Oberbürgermeisterin von Diyarbakır Gültan Kışanak als Eşbaşkan Fırat Anlı zur Seite. Die Praxis wurde aber von einem Gericht für ungesetzlich erklärt.
Siehe auch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Politisches System der Türkei
- Liste der politischen Parteien in der Türkei
- Liste der kommunistischen Parteien der Türkei
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ a b Die OSZE stellt die Türkei unter Beobachtung. Abgerufen am 29. Juni 2014.
- ↑ CHP AK Parti'ye yerel seçim için tarih önerdi. In: Milliyet. 6. September 2012, abgerufen am 6. September 2012.
- ↑ Volltext (türkisch)
- ↑ Türkei: Der Wettlauf der Sperrverfügungen im Internet, beck.de
- ↑ Türkei: Wie Erdogan die Presse knebelt, spiegel.de, 9. Februar 2014
- ↑ Türkei kann Kapitalflucht nicht stoppen., handelsblatt.com, 29. Januar 2014
- ↑ Offizielle Ergebnis der Großstadtwahlen ( vom 17. Mai 2014 im Internet Archive), auf www.ysk.gov.tr
- ↑ Opposition ballots found in trash bags in southern Turkey, Hürriyet Daily News, 1. April 2014
- ↑ CHP’s Istanbul candidate Mustafa Sarıgül demands total recount of votes, Hürriyet Daily News, 1. April 2014
- ↑ Ağrı'da Sırrı Sakık 10 oyla kazandı. Abgerufen am 31. März 2014.
- ↑ Ağrı'da seçim iptal edildi. Abgerufen am 6. April 2014.
- ↑ 11 oy farkla CHP'nin kazandığı belediyede seçim iptal. Abgerufen am 18. April 2014.
- ↑ Türkiye'nin ilk eşcinsel belediye başkan adayı. Abgerufen am 26. März 2014.
- ↑ MHP'nin iki Ermeni adayı. Abgerufen am 26. März 2014.
- ↑ Anadolu Agency: Delayed summertime to begin overnight in Turkey. Abgerufen am 31. März 2014.
- ↑ Tunceli'nin Ovacık ilçesinde sürpriz sonuç. 30. März 2014, abgerufen am 31. März 2014 (türkisch).
- ↑ Archivierte Kopie ( vom 1. April 2014 im Internet Archive)
- ↑ Siirt'te kanlı saldırı. Archiviert vom am 3. April 2014; abgerufen am 31. März 2014.
- ↑ 10 vekil tercih yapacak. Abgerufen am 2. April 2014.