Sententiae Receptae

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Die Sententiae Receptae (ad filium) (auch Pauli Sententiae, unter Rechtshistorikern sind zudem die Bezeichnungen pseudopaulinische Sentenzen (sententiae = kommentierte Entscheidungen) und (Pseudo-)Paulussentenzen mit der Kurzzitierweise PS geläufig) sind ein um die Wende vom 3. zum 4. Jahrhundert im – wahrscheinlich nordafrikanischen[1]römischen Westen entstandenes, in Latein verfasstes, frühnachklassisches Werk der Rechtsliteratur. Der Zusatz „ad filium“ verweist darauf, dass die Sammlung ursprünglich zur Belehrung für den Sohn des Paulus gefertigt war.

Bedeutung des Werks

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Die von einem Anonymus verfasste Textzusammenstellung gilt als bedeutende Überlieferungsquelle des vorjustinianischen Rechts. Da die Kompilatoren um Justinian im 6. Jahrhundert höchstens den zehnten Teil der insgesamt noch verfügbaren klassischen Juristenliteratur (im später so genannten Corpus iuris civilis) verarbeitet hatten, liefern die paulinischen Sentenzen der Rechtsforschung bis heute wertvolle Zusatzinformationen. Von allen verbliebenen Handschriften haben die Sentenzen die weiteste Verbreitung erfahren und da viel von diesem Kompendium erhalten geblieben ist, ist neben den Inhalten ein guter Einblick in das gewählte System der redaktionellen Ordnung möglich (Codexsystem).[2] In einem Codexsystem werden die Disparitäten der unterschiedlichen Rechtsmaterien aufgehoben, sie stehen nicht mehr zusammenhangslos und ohne Verzahnung nebeneinander, sie werden vereinheitlicht und stehen (gegebenenfalls integrativ) im Wechselbezug zueinander.[3] Der Erfolg des Systems liegt darin, dass eine so aufgebaute Rechtsordnung besser auf Neuerungen zu reagieren vermag.[4]

Die Schrift enthält – für seine Zeit untypisch – eine Vielzahl lehr- und regelhafter Florilegien. Immer wieder wurde sie deshalb dem spätklassischen Juristen Iulius Paulus zugeschrieben, der in der severischen Zeit aktiv war. Aufgrund der letztlich unklaren Autorenschaft sind die Sentenzen mit dem Attribut „pseudopaulinisch“ belegt, gelten als pseudoepigraphisch.[5][6] Zweifel an einer authentischen paulinischen Tradition des Kompendiums sind nicht erst in der neuzeitlichen Forschung aufgekommen, sie bestanden bereits zu Zeiten des Kaisers Konstantin. Kaum anders ist erklärbar, dass Konstantin – ausweislich des Codex Theodosianus – in einem der Jahre 327/328 eine Konstitution dazu erließ die anwies, dass die Schrift uneingedenk der tatsächlichen Herkunft, über alle Zweifel erhaben und in künftigen Gerichtsverfahren zwingend zu beachten sei.[7] Konstantin stützte seine Anordnungen auf den überzeugenden Abhandlungsstil der Sentenzen, den er für brillant erachtete.

Max Kaser zählt die Sentenzen nicht zur Interpolationsliteratur. Er erkennt darin vielmehr ein „neues“ Werk.[8] Vornehmlich gingen die Vertreter der klassischen Jurisprudenz methodisch in ihren Werken kasuistisch vor, was im Sinne von „problematisierend“ verstanden werden muss. Das betraf die Literaturgattungen der responsa, quaestiones, epistulae und dispuationes gleichermaßen. Kaser ordnet die Sentenzen hingegen der reinen Kommentarliteratur zu, weil auf die Darstellung – auch fiktiver – Lebenssachverhalte als Ausgangspunkt für die rechtliche Diskussion und die daran anschließenden Schlussfolgerungen aus den gewonnenen Erkenntnissen gänzlich verzichtet würde.[9]

Publiziert ist das Werk in fünf Büchern (libri).[10] Paulus hatte spätestens mit dem Zitiergesetz der Kaiser Valentinian und Theodosius gesellschaftliche Bedeutung erlangt, denn als sogenannter Zitierjurist nahm er den Rang einer verbindlichen Rechtsautorität im gesamten Reich ein. Paulus’ Auffassungen waren stets zu beachten. Inhaltlich befassen sich die Sentenzen mit den Materien des Straf- und Zivilrechts. Der Arbeit werden besonders die prägnante Formulierungskunst und die systematische Übersicht nach Themen zugutegehalten, sodass sie verwechselbar wird mit den traditionellen Gesetzesanordnungen der klassischen Zeit.[11]

Das Kompendium umfasst römisches Privatrecht einschließlich Verwaltungs- und (zunehmend härter sanktionierendes) Strafrecht. Daneben werden Materien behandelt die regionale Besonderheiten und Weiterentwicklungen aufwiesen.[12] Von Bedeutung ist das Werk auch dadurch, dass die Umstände ausführlich beschrieben werden, die dazu führten, dass der übliche Formularprozess (agere per formulam) zugunsten des Kognitionsverfahrens aufgegeben worden war. Mit dem Prozesstyp hatten die zuständigen Prätoren über einen langen Zeitraum während der Republik und in der frühen frühen Kaiserzeit agiert.[13][14] Weniger förmlich und wesentlich moderner für das Erkenntnisverfahren, hatte sich dann der neue Gerichtstyp etabliert.[15] Eingehender beschrieben wird auch, dass und wie die Kognitionsprozesse an den Kaiser mit seiner Gerichtsbarkeit übergingen. Die für die neue Gerichtsbarkeit zuständigen Beamten handelten nicht mehr nach ediktorischen Vorgaben, sondern nach Maßgabe von Verwaltungsverordnungen. Weil prozessual wohl effektiver, schwand der Einfluss des Verwaltungswesens der klassischen Jurisprudenz.[16]

Historische Einbettung

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Die epiklassischen[17] Sentenzen entstanden nach den diokletianischen Sammlungen von Kaiserkonstitutionen, den Kodizes Gregorianus und Hermogenianus. Mit der Einführung der beiden Kompilationen war die Rechtsliteratur dazu übergegangen, die klassischen Juristenwerke in wesentlich simplifizierter Form wiederzugeben. Geschuldet war das der deutlich abschwellenden Anspruchshaltung an den juristischen Ausbildungsstätten und der daran angelehnten Rechtspraxis. Mit vergleichbarem Ansinnen entstanden die regulae Ulpiani und die tituli ex corpore Ulpiani, Transformationen von Juristenschriften des nicht minder bedeutsamen Rechtsgelehrten Ulpian.[10] Ähnlich wie die Epitome Gai sind die Sentenzen zwar durch die weströmische Gesetzgebung überliefert, doch müssen sie als Überarbeitung eines erst im frühen 5. Jahrhundert entstandenen Auszugs aus den Institutiones Iustiniani gelten.[18]

Kaiser Konstantin kassierte 321 alle schriftsatzlichen Rechtskritiken (sogenannte notae) der Juristen Paulus und Ulpian, die im Zusammenhang mit den Gutachtensammlungen (responsa) des Juristen Papinians standen, um sieben Jahre später umgekehrt Echtheit einer Paulus untergeschobenen Schrift zu dekretieren.[19] Aus diesem Grund ist nicht mit Gewissheit zu sagen, ob Recht, das beispielsweise in den Codex Theodosianus eingeflossen ist,[20] klassisches Recht oder zeitgenössisches Recht der auch aus diesem Grund so genannten pseudo-paulinischen Sentenzen umfasst. Ausdrücklichen Bezug auf die pseudopaulinischen Sentenzen nimmt andererseits die Sammlung der Collatio,[21] die auf eines der fünf Bücher, den liber singularis De poenis paganorum, Bezug nimmt.[22]

Weitere Fundstellen des Werkes befinden sich in den nachgenannten Kodizes und Schriftensammlungen: lex Romana Visigothorum (Brevier des Alarich), fragmenta Vaticana, lex Romana Burgundionum und in den Digesten. Lange hielt man die paulinischen Sentenzen für einen Anhang der frühmittelalterlichen westgotischen lex Romana Visigothorum Frankreichs.[1]

Verbreitung des Werks

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Die Sentenzen wurden bis zum 8. Jahrhundert in Gallien zwölfmal bezeugt. Den Nachweisen entsprechend erstmals unter Kaiser Konstantin 328 n. Chr. in Trier[23] und ab Mitte des 5. Jahrhunderts. Im 9. und 10. Jahrhundert kamen Mitteilungen hinzu, die Breviar-Auszüge supplierten. Fünf weitere Nachweise lassen sich für den italischen Raum im 4. und 5. Jahrhundert eruieren, ebenso viele aus dem 4. und 5. Jahrhundert im Osten des Reichs.[24]

  • Johann Samuel Ersch, Johann Gottfried Gruber (Hrsg.): Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1818–1889, Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz 1969, ISBN 978-3-201-00093-2, 3. Sektion, Band 13, S. 228 ff. (online)
  • Detlef Liebs: Die Jurisprudenz im spätantiken Italien (260–640 n.Chr.) (= Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen. Neue Folge, Band 8). Duncker & Humblot, Berlin 1987, S. 173, 191 und 287.
  • Detlef Liebs: Römische Jurisprudenz in Africa mit Studien zu den pseudopaulinischen Sentenzen (= Antike in der Moderne. Band 3). Berlin 1993. 2. Auflage (= Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen. Neue Folge, Band 44), Duncker & Humblot, Berlin 2005, ISBN 3-428-11617-8.
  • Ulrich Manthe: Geschichte des römischen Rechts (= Beck'sche Reihe. 2132). Beck, München 2000, ISBN 3-406-44732-5, S. 106–110.
  • Hartwig Schellenberg: Die Interpretationen zu den Paulussentenzen, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1965.
Wikisource: Sententiae receptae Paulo tributae – Quellen und Volltexte (Latein)
  1. a b Ulrich Manthe: Geschichte des römischen Rechts (= Beck'sche Reihe. 2132). Beck, München 2000, ISBN 3-406-44732-5, S. 115 f.
  2. Detlef Liebs: Das Codexsystem. Neuordnung des römischen Rechts in nachklassischer Zeit. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Romanistische Abteilung), Band 134, Heft 1, Jahrgang 2017. S. 413.
  3. Das Prinzip wurde im geringfügig älteren Codex Gregorianus bereits angewandt und wurde in den wichtigen Kodifikationen der Spätantike befolgt (vgl. Codex Theodosianus, Codex Iustinianus, Digesten).
  4. Detlef Liebs: Rechtsliteratur. In: Ulrike Babusiaux, Christian Baldus, Wolfgang Ernst, Franz-Stefan Meissel, Johannes Platschek, Thomas Rüfner (Hrsg.): Handbuch des Römischen Privatrechts. Mohr Siebeck, Tübingen 2023, ISBN 978-3-16-152359-5. Band I, S. 193–221, hier S. 216 (Rn. 52).
  5. Gegen einen apokryphen Charakter der Sentenzen: Marie Theres Fögen: Die Enteignung der Wahrsager. Studien zum kaiserlichen Wissensmonopol in der Spätantike. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-518-58155-4, S. 75.
  6. Ebenfalls verneinend: Fritz Schulz: Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, Weimar 1961, S. 213 ff; Ernst Levy: Paulus und der Sentenzenverfasser, In Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Die Romanistische Abteilung (RA, ISSN 0323-4096), 1930, Band 50, S. 272–294.
  7. Codex Theodosianus 1,4,2.
  8. Max Kaser: Römische Rechtsquellen und angewandte Juristenmethode. In: Forschungen zum Römischen Recht, Band 36, Böhlau, Wien/Köln/Graz 1986, ISBN 3-205-05001-0, S. 116, FN 9.
  9. Michel Humbert: Faktoren der Rechtsbildung. In: Ulrike Babusiaux, Christian Baldus, Wolfgang Ernst, Franz-Stefan Meissel, Johannes Platschek, Thomas Rüfner (Hrsg.): Handbuch des Römischen Privatrechts. Mohr Siebeck, Tübingen 2023, ISBN 978-3-16-152359-5. Band I, S. 3–31, hier S. 26 f. (Rnr. 48–50).
  10. a b Herbert Hausmaninger, Walter Selb: Römisches Privatrecht. Böhlau, Wien 1981 (9. Auflage 2001), ISBN 3-205-07171-9, S. 48 f.
  11. A. Arthur Schiller: Roman Law: Mechanisms of Development, Den Haag, New York 1978. S. 46 ff.
  12. Detlef Liebs: Römische Jurisprudenz in Africa mit Studien zu den pseudopaulinischen Sentenzen, 2. Auflage, 2005. S. 41–127.
  13. Franz Wieacker: Römische Rechtsgeschichte. Zweiter Abschnitt: Die Jurisprudenz vom frühen Prinzipat bis zum Ausgang der Antike im weströmischen Reich und die oströmische Rechtswissenschaft bis zur justinianischen Gesetzgebung. C. H. Beck, München 2006, ISBN 978-3-406-33928-8, S. 172.
  14. „Streiten mit Prozeßformeln“ (litigare per con-cepta verba, id est per formulas); siehe: Wolfgang Kunkel, Martin Schermaier: Römische Rechtsgeschichte, 14. Auflage. UTB, Köln/Wien 2005, § 6 (Die zivilrechtliche Jurisdiktion und das Amtsrecht), S. 106–123 (112).
  15. Jan Dirk Harke: Römisches Recht. Von der klassischen Zeit bis zu den modernen Kodifikationen. Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-57405-4 (Grundrisse des Rechts), § 1 Rnr. 22.
  16. Ulrich Manthe: Geschichte des römischen Rechts (= Beck'sche Reihe. 2132). Beck, München 2000, ISBN 3-406-44732-5, S. 106–110.
  17. Der Begriff „Epiklassik“ steht im Bereich des Rechtswesens für die erste Periode der Spätantike vom Beginn der Reichskrise des 3. Jahrhunderts bis zur Konstantinischen Wende (vgl. Detlef Liebs: Die Jurisprudenz im spätantiken Italien (260-640 n.Chr.), Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen, Neue Folge, Band 8, Duncker & Humblot, Berlin 1987, S. 283–287 (Zusammenfassung) – angelehnt an Franz Wieacker).
  18. Wolfgang Kunkel, Martin Schermaier: Römische Rechtsgeschichte, 14. Auflage. UTB, Köln/Wien 2005, § 10 (Die Rechtsentwicklung der Spätzeit bis auf Justinian), S. 187–207 (193).
  19. Detlef Liebs: Die Jurisprudenz im spätantiken Italien (260–640 n.Chr.) (= Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen. Neue Folge, Band 8). Duncker & Humblot, Berlin 1987, S. 287.
  20. Codex Theodosianus 1,4,2.
  21. Detlef Liebs: Die Jurisprudenz im spätantiken Italien (260-640 n.Chr.) (= Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen. Neue Folge, Band 8). Duncker & Humblot, Berlin 1987, S. 173.
  22. Mosaicarum et Romanarum legum collatio 2,5 f.; 6,6,2.
  23. Codex Theodosianus 1, 4, 2.
  24. Detlef Liebs: Römische Jurisprudenz in Gallien (2. bis 8. Jahrhundert) (= Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen. Neue Folge. Band 38). Duncker & Humblot, Berlin 2002, ISBN 978-3-428-10936-4. S. 99 f.